Hamburg. Das Leben der Nazijägerin und ihres Mannes Serge erzählt eine starke Graphic Novel aus dem Hamburger Carlsen Verlag. Die Hintergründe.

Das gerade aus deutscher Sicht verdorbene 20. Jahrhundert hatte viele Heldinnen und Helden. Manche auch aus dem Land der Richter und Henker. Willy Brandt fällt einem ein, Hans und Sophie Scholl. Boris Becker (der junge), warum nicht auch der. Steffi Graf, Uwe Seeler, Helmut Rahn. Für manche Helmut Kohl. Der ist jetzt die Überleitung.

Zu Beate Klarsfeld, der als Kanzlerohrfeigerin in die Geschichte eingegangenen Frau. Sie klebte dem ehemaligen Nazi-Funktionär Kurt-Georg Kiesinger, der in einer geschichtsvergessenen Nation 1966 Bundeskanzler geworden war, auf dem CDU-Parteitag in Berlin 1968 eine. Es war die vermutlich verdienteste Schelle der Politikgeschichte und eine aufsehenerregende Tat. Dazu angetan, der 1939 in Berlin geborenen und seit den Sechzigerjahren in Paris lebenden Klarsfeld früh Legendenstatus zu geben – zumindest in manchen Kreisen. In ihrer Rigidität und ihrem aktivistischen Furor war die Kiesinger-Ohrfeige typisch für jene studentenbewegten und aufgeheizten Anklagejahre.

Beate Klarsfeld erhielt das Bundesverdienstkreuz

Eine große, mutige Aktion. Das Werk einer wahren Heldin. Beate Klarsfeld wurde vor Gericht gestellt und sollte zu einer Gefängnishaft verurteilt werden. Weil sie auch französische Staatsbürgerin ist, kam sie frei. Aber erst 2013 erhielt Klarsfeld gemeinsam mit ihrem Ehemann Serge das Bundesverdienstkreuz. Dass ausgerechnet sie, die Ausgewanderte, eine Autorität körperlich anging, schmerzte die Seele der Nation, die so lange Jahre aber ohnehin verschattet war.

Die historische Ohrfeige, die Kanzler Kurt-Georg Kiesinger von Beate Klarsfeld für seine Nazi-Vergangenheit kassierte.
Die historische Ohrfeige, die Kanzler Kurt-Georg Kiesinger von Beate Klarsfeld für seine Nazi-Vergangenheit kassierte. © Unbekannt | © 2020 Pascal Bresson, Sylvain Dorange, La Boîte à Bulles, © der deutschen Ausgabe Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2021

Die Ohrfeige war ein großer symbolischer Akt, aber bei Weitem nicht das Einzige, was Beate Klarsfeld in ihrem jetzt 82 Jahre währendem Leben zuwege brachte. Gemeinsam mit ihrem Mann Serge, dem Anwalt und Sohn eines von den Nazis ermordeten französischen Juden, verfolgte sie jahrzehntelang das Ziel, untergetauchte und unbehelligt lebende Nazi-Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Die Kiesinger-Ohrfeige war der medienwirksame Auftakt eines sich auf Selbstinszenierung verstehenden Duos, das Geschichte schrieb.

Hamburger Carlsen-Verlag veröffentlicht Graphic Novel

Die im Carlsen-Verlag erschienene, außergewöhnliche Graphic Novel „Beate & Serge Klarsfeld: Die Nazijäger“ erzählt nun die Geschichte des Ehepaares. Die französischen Illustratoren Pascal Bresson und Sylvain Dorange haben sich erklärtermaßen an der Klarsfeld-Autobiografie „Erinnerungen“ orientiert. Herausgekommen ist ein dicker, anspruchsvoller historischer Comic mit vielen Ortswechseln und Zeitsprüngen, ein Bilderbuch, das außerdem die Möglichkeiten der Sprechblase ausreizt. Selten wurde so viel Dialog-Text in eine Graphic Novel gepackt.

Damit fordern die beiden Schöpfer viel von den Leserinnen und Lesern, aber der Lektüreaufwand lohnt sich in jederlei Hinsicht. Der umfassende und dramatisch verknappte Lebensbericht, der auch eine Liebesgeschichte zwischen einem Franzosen und einer Deutschen ist, ist spannend auf seine Weise – und aus geschichtspädagogischem Blickwinkel allemal eine Überlegung wert.

Umfangreiche Recherchearbeiten der Klarsfelds

Der Comic spart jedenfalls nicht mit Details aus den Recherchearbeiten der Klarsfelds, die ihren jeweiligen erfolgreich abgeschlossenen Nazi-Jagden vorausgingen. Das Geschehen steckt oft in den Dialogen, etwa, wenn die Protagonisten entscheidende Leute – Politiker, Staatsanwälte – auf ihre Seite ziehen wollen. Statisch ist in dieser Bilderzählung aber nichts: Weil die Klarfelds verwegen genug waren, nicht immer alle Gesetze einzuhalten.

Gefährliche Interventionen.
Gefährliche Interventionen. © Unbekannt | © 2020 Pascal Bresson, Sylvain Dorange, La Boîte à Bulles, © der deutschen Ausgabe Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2021

Und so werden die Leserinnen und Leser in diesem Comic Zeuge, wie sie in Bolivien den „Schlächter von Lyon“, Klaus Barbie, aufspürten und wie lange es dann noch dauerte, bis er endlich eingesperrt wurde. Sie fanden auch den SS-Hauptsturmführer Alois Brunner. Und sie sorgten dafür, dass in Deutschland Jahrzehnte nach ihren abscheulichen Taten gegen die Kriegsverbrecher Kurt Lischka, Herbert Hagen und Ernst Heinrichsohn ermittelt wurde.

Sprengstoffattentate auf Klarsfelds scheiterten

Erhebliche Spannung bekommt die Handlung durch die besonders für Beate Klarsfeld gefährlichen Interventionen. Schon die Ohrfeige war nicht ohne: Personenschützer zücken auch mal die Waffe. Und die Reisen nach Südamerika, auf einer wurde sie vorübergehend in Bolivien von der örtlichen Polizei entführt, stellten ebenfalls kein kleines Risiko da.

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Den Nazi Lischka wollten die Aktivisten aus Frankreich übrigens selbst entführen. Was scheiterte, und damit den Vorgang aber überhaupt jemand mitbekam, rief Klarsfeld unter falschem Namen bei der Lokalpresse an. Zu Hause in Frankreich scheiterten zum Glück für die Familie Sprengstoffattentate auf die Klarsfelds. „Beate & Serge Klarsfeld: Die Nazijäger“ ist auch ein bisweilen rührendes Buch, nämlich dann, wenn es um die Liebe zwischen Beate und Serge und der zu ihren beiden Kindern geht.

Comic aus Hamburg zeigt Klarsfeld als Heldin

Der Comic ist sehr klar in seiner Aussage, denn seine klare Heorine ist Madame Klarsfeld, die furchtlose Rächerin der ermordeten Juden Europas. Der Comic ist die fällige Verbeugung vor ihrer Lebensleistung.

Sie ist eine wahre deutsche Heldin. „Ich bin Beate Klarsfeld und mit Serge Klarsfeld verheiratet“, sagt sie bei dem Verhör nach dem Kiesinger-Übergriff, „und ich bin empört über die Ungerechtigkeit, dass alte Nazis in Deutschland ungestraft davonkommen“. Aus der Empörung wurde ein mutiges und wichtiges Werk, bei dem Grenzen übertreten wurden, weil Grenzen eben manchmal übertreten werden
müssen.