Hamburg. Kurz vor Saison-Ende meldet sich die Staatsoper mit Barrie Koskys Inszenierung von Agrippina im öffnenden Kulturleben zurück.

Genau. So
war das mit diesem Zauber, den nur Musik derart perfekt ausüben
kann. Ganz vergessen nach Monaten des Entzugs, sofort wieder
präsent, schlagartig, umwerfend.

Eine leere, dunkle Bühne mit einer
Treppe ist zu sehen, drumherum eine Kreuzung aus Palast-Andeutung
und Raubtierkäfig, ein mehrstöckiger Kubus für hochwohlgeborene
Sozialpsychopathen aus den Herrscherzirkeln im fiesen alten Rom.

Sandalen-Drama ist nicht, die Regie stellt das Stück in eine
abstrakte, kalte Gegenwart. Keine Kulisse. Man ist sofort mitten
drin, alle Charaktere sind offene Bücher.

Händel bricht mit Agrippina mühelos jedes Herz

Im Graben davor kredenzt
ein aufmerksames Barock-Orchesterchen, hochgefahren zur
Präsenzsteigerung, einige einstimmende Takte. Und dann kommt einem
ohne Vorwarnung dieser eine samtige Ton entgegen, der verführerisch
langsam an- und abschwillt, um wie ein Parfumwölklein durch den
Raum zu schweben.

Gesungen wird er von der Sopranistin Julia
Lezhneva
, die als seidensanft dahingegossene Poppea auf den
Treppenstufen in der silbrig zwitschernden Arie „Vaghe perle“
minutenlang von der eigenen Anmut betört ist. Was man nach diesem
Ton und der grandiosen Show durchaus verstehen kann.

Diese Musik
ist über 300 Jahre alt, voller komplizierter Chiffren und
Konventionen, die man kennen könnte, aber überhaupt nicht als
Vorwissen benötigt, und Händel, damals mit der „Agrippina“ gerade
aus der Opernkomponisten-Lehrzeit heraus, bricht damit dem Publikum
im Frühjahr 2021 sanft lächelnd mühelos jedes Herz.

Poppea ist in
diesem Stück noch nicht mal die Titel-Rolle, sie wird in den
nächsten Stunden noch von ihren drei Verehrern gleichzeitig kreuz
und quer durch eine schicke Lounge-Sitzgruppe angebaggert werden,
eine Episode lustiges, flottes Barock-Boulevard-Theater, typisch für
den Regisseur Barrie Kosky, der überall noch eine zusätzliche
Pointe herauskitzeln kann.

Eigentlich dreht sich der Plot um eine
Postenschacherin

Egal jetzt. Die Zeit und die Handlung
stehen still, für diesen ersten Ton Poppeas und alle anderen, die
sich daraus ergeben. Eigentlich dreht sich der Plot um eine
Postenschacherin, bei der Claire Underwood für ihre Amtsführung in „
House of Cards“ einiges hätte lernen können.

Agrippina (Anna
Bonitatibus
) will ihr verzogenes Söhnchen Nerone auf den Thron
hieven. Gatte Claudio (so eindimensional wie seine Rolle: Luca
Tittoto), doch nicht im Dienst im Meer ertrunken, will danach vor
allem Poppea schnellstmöglich an die Designer-Wäsche; Schleimer und
Schranzen sind die Marionetten, an deren Fäden Agrippina nach
Bedarf zieht.

Feinst verworrenes „Wer gegen wen und wie oft?“
folgt, bis sich final alles in Wohlgefallen auflöst – fast
zumindest, denn Agrippina schleicht sich zurück in ihre
Kaiserinnen-Klause, ausgebrannt, zu Tode betrübt, während das Tutti
mit einer umgeschriebenen Oratoriums-Arie als moralisierender
Epilog nicht originalgetreu, aber angemessen klagend kommentiert.

Ein Abspann, der sagen soll: Alles erreicht, aber zu viel verloren
deswegen. Natürlich könnte man zuerst über den Umstand schwärmen,
dass es für knapp 400 dauermaskierte Menschen in der Staatsoper am
Freitag wieder losgehen durfte mit diesem kollektiven Verzücken
über die Begegnung mit Oper.

Agrippina ist in pandemischer Zeitrechnung eine halbe Netflix-Staffel

Nicht nur das, sondern auch gleich
knapp vier Stunden, in unserer pandemischen Zeitrechnung eine halbe
Netflix-Staffel. Hunderte von Menschen im Saal und vor ihnen eine
Bühne. Mit Musik und singenden Menschen, die sich sehr nicht nur
musikalisch sehr nahe kommen, die aufeinander einsingen und
aufeinander eindreschen, mit Waffen, mit Worten und frei nach den
Noten. Verrückte Idee? Nicht mehr, noch sehr ungewohnt.

Und auch
der einstimmige Beifall für alles und jeden hatte natürlich noch
nicht den Druck, den ein wirklich volles Haus geliefert hätte. Doch
gegen den Eindruck, hier gäbe es lediglich verdruckstes
Notprogramm, spielten und sangen alle Beteiligten von Anfang an
vehement an: Das Ensemble Resonanz, bedarfsgerecht mit Bläsern und
Pauken aufgestockt, hatte mit Riccardo Minasi – man kennt sich, man
schätzt sich sehr – einen sachkundigen Dirigenten vor sich, der die
Musik formte und forderte, aber nie überreizte oder lauwarm
durchspielen ließ.

Unaufhörlich ging dieses Stück musikdramatisch
vorwärts, mit feinem Gespür für Timing und Tempi. Und wenn
Agrippina danach sein darf, gönnt Minasi sich ein süffiges kleines
Walzerschunkeln im Dreivierteltakt.

Anna Bonitatibus fehlt der Killer-Instinkt

Anna Bonitatibus hatte mitunter
Mühe, in ihrer Partie jenen Killer-Instinkt hörbar zu machen, ohne
den Agrippina eher wie eine italienische Über-Mamma mit
Glucken-Komplex wirkt und nicht wie eine Führungskraft, die jeden
reinlegt.

Und während in der Handlung um die Krone und Poppea
gerungen wird, liefern sich die drei Countertenöre der Besetzung
einen Wettkampf, bei dem es zu einem knappen Unentschieden zwischen
dem prominenteren, aber auch leicht verspannteren Franco Fagioli
als präpotentem Nero mit Glatzen-Tattoo und Christophe Dumaux
kommt, der dem herzensgute Intrigen-Prügelknaben Ottone Tiefe und
Format gibt.

Wie Dumaux, blutig und verzweifelt, in seinem
Klagegesang „Voi ch’udite“ von den Streichern auch noch ein
glühendes Messer in den Leib gerammt bekommt, ist schlicht
erschütternd fürchterlich. „Sie sind wieder da, wir sind wieder da“
, so hatte Intendant Georges Delnon vor Beginn der Vorstellung
bestens gelaunt begrüßt.

Für ihn war der Saal offenbar nicht mehr
zu drei Vierteln leer, sondern zu einem Viertel gefüllt. „Es war ja
auch Zeit.“ Genau. Termine: 3. / 6. / 10. Juni. Evtl. Restkarten.