Hamburg. An diesem Wochenende geht – fast ein halbes Jahr nach der Generalprobe – erstmals wieder eine Ballettpremiere über die Bühne.

Die Theater erwachen nach dem zweiten Lockdown derzeit aus einer Art Dornröschenschlaf. Das Auftaktwochenende steht auch im Zeichen des Tanzes. An diesem Sonnabend kommt die mehrfach verschobene Kreation „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier mit dem Hamburg Ballett zur Uraufführung. Ein Gespräch über Verschiebungen, Hoffnungen und starke Tanzmomente in Beethovens Kompositionen.

Hamburger Abendblatt: Ursprünglich war die Premiere von „Beethoven-Projekt II“ für Herbst 2020 anlässlich des 250. Geburtstages von Ludwig van Beethoven geplant. Mit welchen Gefühlen blicken Sie dem Abend nun entgegen?

John Neumeier: Es ist schwer zu beschreiben. Die hervorragende Generalprobe war letztes Jahr am 4. Dezember – man konnte nicht glauben, dass wir zwei Tage später nicht tanzen würden! Danach wurde die Premiere zuerst auf den 22. Dezember verschoben und ab diesem Zeitpunkt wurde sie sieben Mal vertagt bis zu diesem Sonnabend. Es ist ein starkes Gefühl – ich hoffe nur, dass es nun keinen Grund gibt, daran zu zweifeln, dass der Vorhang sich heben wird.

Haben Sie jemals die Hoffnung aufgegeben?

Neumeier: Dafür bin ich zu optimistisch. Ein gewisser Zweifel kam mir vor ungefähr einem Monat und deswegen haben wir mit sieben Kameras einen Film von der Kreation gedreht. Ich dachte, wenn es soweit kommt, dass wir sie in dieser Spielzeit nicht zur Premiere bringen können – ich wollte also auf jeden Fall ein Dokument der Urbesetzung noch in dieser Spielzeit haben.

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Sie haben das Ballett seit der Generalprobe am 4. Dezember weiterentwickelt. Warum?

Neumeier: Dadurch, dass wir fortlaufend Änderungen, Verbesserungen und Intensivierungen vorgenommen haben, konnte ich die Motivation der Compagnie am Leben halten. Es ist nun nicht mehr das gleiche Ballett wie bei der Generalprobe, sondern eine Superplus-Fassung, weil wir wirklich sehr lange daran gefeilt haben.

Welche biografischen oder künstlerischen Anteile interessieren Sie diesmal an dem Komponisten im Unterschied zu Beethoven-Projekt I?

Neumeier: Ursprung ist das Oratorium „Christus am Ölberge“, das im zeitlichen Umfeld von Beethovens Heiligenstädter Testament entstanden ist. Das hat der Komponist verfasst, nachdem er erfahren hat, dass er endgültig taub wird. Ich habe diese Idee des Gründonnerstags aufgegriffen, an dem Christus betet, dass der Kelch an ihm vorbeigehen möge und sie mit dem Testament verbunden, in dem Beethoven klagt und bittet, dass der Kelch der Taubheit ihn verschonen möge. Weil Beethoven für mich zeitlos ist, befindet er sich in meinem Ballett bei einem Hausmusikkonzert von heute. Ich wollte aber auf jeden Fall, dass die Kreation in diesen Zeiten positiv endet. Deshalb habe ich die siebte Sinfonie gewählt. Richard Wagner hat sie einmal die Apotheose des Tanzes genannt, es stimmt, das Werk ist unglaublich machtvolle Tanzmusik. Es hat eine Stärke von rhythmischer Ekstase, die einen wirklich umwirft.

Anfangs wollten Sie ja Beethovens neunte Sinfonie choreografieren. Warum haben Sie sich für die Musikauswahl aus Klavier- und Kammermusik, die siebte Sinfonie und einen Ausschnitt aus dem Oratorium „Christus am Ölberge“ entschieden?

Neumeier: Als ich die Premiere im August mit Generalmusikdirektor Kent Nagano geplant hatte, war mir klar, dass wir im Dezember nicht die Möglichkeit haben werden, einen Chor, ein Orchester und ein Ballett auf der Bühne zu vereinen. Jetzt hat der Abend natürlich keine Chormusik und Kent hat dafür gesorgt, dass das Orchester auf 35 Musiker reduziert ist, die mit Abstand auf der Bühne sind. Es gibt eine zweite Ebene, die für den Chor gedacht war, und die natürlich ein wunderbarer Ort ist, wenn man sich vorstellt, Christus am Ölberg zu sehen. Das Bühnenbild, das Heinrich Tröger für die 9. Sinfonie entwickelt hat, funktioniert fantastisch auch für das Beethoven-Projekt II.

Es ist nach „Turangalila“ (2016) die zweite Zusammenarbeit mit Generalmusikdirektor Kent Nagano. Was zeichnet diese Kollaboration aus?

Neumeier: Eine große Ruhe, Konzentration und Harmonie. Es war uns beiden rational klar, dass wir die neunte Sinfonie wahrscheinlich nicht würden umsetzen können, aber wir wollten trotzdem eine Hommage an Beethoven gestalten. Zunächst habe ich eine Struktur für diesen Abend entwickelt und Kent Nagano hat dazu Vorschläge gemacht. Fast alle Musiken, die ich benutze, hat er schon aufgenommen, so dass ich hören konnte, wie er sich den Klang vorstellt und das hat meiner Wahrnehmung der Musik sehr entsprochen.

Wie haben Sie die letzten Monate und Wochen im zweiten Lockdown geprobt?

Neumeier: Ich war sehr früh im August mit dem Amt für Arbeitsschutz und der Unfallkasse Nord im Dialog zu der Frage, wie man eigentlich den Kontaktberuf Tänzer in diesen schwierigen Zeiten ausüben könnte. Am Anfang wurden die Tänzer einmal, in den letzten Monaten zweimal in der Woche getestet und das hat bis jetzt wirklich fantastisch geklappt. Auf der Tanzfläche des Ballettsaals müssen wir keinen Abstand halten, ansonsten gilt Distanzgebot und Maskenpflicht. Wenn die Choreografie es verlangt, dürfen die Tänzerinnen und Tänzer einander anfassen. Wir haben alles getan, damit die Essenz eines Tänzers leben kann, nämlich Bewegung im Raum und der Kontakt zu anderen Menschen.

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Die biografische Rolle übernimmt erneut Aleix Martínez. Was zeichnet diesen Tänzer aus?

Neumeier: Seine Hingabe an die Rolle, seine Bewegungsart, sein Sinn für Timing und Isolation gewisser Teile des Körpers sind wirklich einmalig. Hinzu kommen Kraft, Durchhaltevermögen und eine enorme Energie. Er sollte nie wie Beethoven aussehen, aber die Essenz Beethovens auf einer anderen Ebene darstellen.

Wie wird sich die Welt der Kunst
entwickeln, wenn wir möglicherweise die Pandemie bald hinter uns haben? Was
denken Sie?

Neumeier: Ich bin sehr konservativ in meiner Meinung und glaube, es wird wenig anders sein. Es wird sicher einige Zeit der Gewöhnung brauchen, aber dann sehr schnell gehen, weil die Kunst für uns nicht etwas fremdes oder spezielles ist, sie ist etwas, das in uns ist und das wir brauchen. Unser Herz wird aufgehen. Die siebte Sinfonie ist so ein Hoffnungsschrei. Der erste Teil endet mit der Waldsteinsonate. Wenn man Optimismus hören könnte, würde er so klingen. Ich denke, das ist genau der richtige Ballettabend für diese Zeit.