Hamburg. In „Dann sind wir Helden“ führt die Hamburger Schriftstellerin in die Einsamkeit der Berge und mitten zwischen die G-20-Barrikaden.
Das Leben ist eine Gratwanderung, mal mehr, mal weniger offensichtlich. Und wo die große Freiheit winkt, da lauert womöglich auch schon der Absturz. In ihrem neuen Roman „Dann sind wir Helden“, ihrem ersten nach zehn Jahren, blättert die Hamburger Schriftstellerin Tina Uebel („Last Exit Volksdorf“) einen Reigen scheinbar komplett unterschiedlicher Grenzgänger auf, die doch mehr eint als auf den ersten Blick sichtbar.
Da ist die bissige Extremwanderin Ruth, die sich allein gen Osten durch die Alpen kämpft, da ist der ausgeglichene Bergführer Jero, der reichlich Grund hätte, zynisch zu werden (aber weit entfernt davon ist). Da sind der junge Krawalltourist und seine betrogene Mutter, eine spätberufene Influencerin. Alle sind sie Gratwanderer, jede auf ihre Art, jeder auf seine Weise, alle suchen nach dem Kick, dem Moment der Verwegenheit, danach, sich lebendig zu fühlen. Sie bezwingen Gipfel, buchstäblich und im übertragenen Sinne, manchmal sowohl als auch.
Mit Tina Uebels "Helden" auf dem Adrenalin der G-20-Tage surfen
„Wenn man nur, denkt Ruth, nicht immer alles geschenkt bekäme. Wir beginnen unser Leben geimpft, wir werden fett zwischendrin, erst wenn wir sterben, merken wir, dass wir nie kämpfen gelernt haben.“ Das ist so das Mindset. „Man muss auch nicht immer alles mögen“, beschreibt es Teenager Simon aus der Langweilermetropole Hannover, der zum Partymachen auf den Hamburger Kiez fährt, „man muss auch mal was abkönnen.“
Für Simon heißt das: in den Szenevierteln abhängen, mit dem Punkmädchen koksen, Telefonnummern nach One-Night-Stands löschen – und irgendwann unkontrolliert auf dem Adrenalin der G-20-Tage surfen.
„Dann sind wir Helden“ lebt von Gegensätzen
„Dann sind wir Helden“ lebt von den Gegensätzen der Charaktere und des Settings. Einerseits Gebirgsstille, andererseits urbane Bambule zwischen Wasserwerfern und Tränengas. Hier die überhebliche Gleichgültigkeit eines routinierten „Motivationsboosters“, der seine Lektionen an eine bedürftige „Community“ herunterspult, dort die Selbstentblößung der erwachenden Hausfrau, die als Videobloggerin plötzlich innere „Drachen“ entdeckt.
Während Simon durch das brennende Hamburg taumelt und die Touristen in der Felswand hängen, radikalisiert sich Mutti auf ihrer Veranda: „Man muss bloß aufhören, an Grenzen aufzuhören. Man muss bloß den einen Schritt weiter tun.“
Alle radikalisieren sich (außer dem freundlichen Bergführer, der als Einziger das Abenteuer lebt, dem die anderen nur hinterherhecheln, den das aber auch nicht rettet) und trudeln, zurückgeworfen auf sich und die innere Leere, unausweichlich auf ihre jeweiligen Abgründe zu. Eine rechtzeitige Abzweigung, eine echte Hoffnung, macht Uebel eher nicht aus, für keinen von ihnen.
Die Schönheit der Berge und die Barrikaden des G-20-Sommers
Dabei ist „Dann sind wir Helden“ zwar ein sarkastischer, ein gegenwartskritischer, aber überhaupt kein deprimierender Roman. Das liegt zum einen an Tina Uebels dichter, präziser Erzählkunst. Die Autorin, die als Extremreisende durchaus selbst Berührung mit diversen Grenzerfahrungen gehabt haben dürfte, holt die Schönheit und Schroffheit der Bergwelt ebenso nah wie die Barrikaden des postapokalyptisch flirrenden G-20-Sommers; beide Erzählstränge sind die stärksten.
Zum anderen ist das Buch schlicht ziemlich lustig in seiner Lust an der Entlarvung – der Figuren, des geradezu lächerlichen Glaubens daran, sich das „echte“ Abenteuer kaufen zu können, aber auch des Mythos „Freiheit“.
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Ganz nebenbei schummelt sich ein sicher nicht ganz unabsichtliches „Hygiene ist alles“ in den Text, es gibt einen Ausflug in virtuelle Realitäten, und beim Cornern in der Schanze sabbelt ein Zugedröhnter über Impfungen als „groß angelegtes Menschenexperiment“.
Da offenbart sich dann nicht nur die Zeit, in der das Buch spielt, sondern es spiegelt sich auch jene, in der es geschrieben wurde (und gelesen wird).