Hamburg. Im Museum für Kunst und Gewerbe wird unser größtes, rätselhaftestes Gefühl zwischen Vertrautheit, Enge und Einbildung beleuchtet.

Am Anfang ist die Erde. Der blaue Planet heißt die Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung willkommen. Die Aufnahme, die den Mondrand vorn im Bild zeigt, stammt von der Apollo 11-Mission aus dem Jahr 1969. Oft haben Astronauten berichtet, das die Schönheit und Bedeutsamkeit der Erde niemals so stark zu spüren ist, wie aus dieser immensen Entfernung.

Die Erde als Heimatplanet – eine Selbstverständlichkeit, allein aus Mangel an Alternativen (zumindest jetzt noch). Aber was bedeutet uns diese Heimat, wenn wir sie missachten, ausbeuten und zerstören? Und empfindet jeder Mensch die Erde als seine Heimat? Oder ist dieses größte und rätselhafteste Gefühl eher im Kleinen zu finden, etwa in einem Stück Pumpernickel, im Millerntorstadion oder zwischen zwei Buchdeckeln?

Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst & Gewerbe

Heimat. Was ist das eigentlich? Eindrücke, die sich aus der Kindheit speisen? Eine nostalgische Vorstellung, die uns hilft, immer wieder auf den rechten Weg zurückzufinden, eine Art Kompass aus vertrauter Umgebung, vertrauten Menschen und Dingen? Ein geschickter Kniff von Werbetreibenden, um uns Reisen in den Schwarzwald (diese heimeligen Berge!) oder knackige Würstchen (Deutschländer!) schmackhaft zu machen? Oder gar am Ende nur sentimentale Einbildung? Vielleicht auch nur ein flüchtiger Geruch? Kurz: Was ist Heimat und wenn ja, wie viele?

Ernst Strom: „Deutschland mit der Bahn“.
Ernst Strom: „Deutschland mit der Bahn“. © Unbekannt | MK&G, © DB Museum Nürnberg

Eben diesen Fragen widmet sich eine Ausstellung und Umfrage im Museum für Kunst & Gewerbe (MK&G). „Gerade weil es nicht nur die eine Definition von Heimat gibt, haben wir uns bewusst für den Titel ‘Heimaten’ entschieden“, erklärt Amelie Klein, die zusammen mit Simon Klingler und Caroline Schröder kuratiert hat. Letztere war auch Ideengeberin: „Ich kam 2017 ans Museum, und dieser Merkelsche Ausspruch zur Hochzeit der Flüchtlingskrise ‘Wir schaffen das!’ lag noch in der Luft. Auf einmal hatten wir es in Deutschland mit vielfältigen Heimaten zu tun. So entstand über Jahre der Auseinandersetzung mit dem Thema diese Ausstellung.“

Einzelne Stationen mit Alltagsgegenständen

An einzelnen Stationen begegnen wir Alltagsgegenständen und künstlerisch gestalteten Objekten, die einen ganzen Kosmos an Heimaten auffächern. Eine imposante Holztür, die einst zu einem prachtvollen Bürgerhaus im alten Königsberg gehörte, aber von der Eigentümerin aus finanzieller Not verkauft werden musste und noch heute von den Nachfahren im Museum besucht wird. Das Sandmännchen aus dem Kinderfernsehen.

Ein „Dirndl á la Africaine“ von dem Münchner Designerlabel Noh Nee, das verschiedene kulturelle Bräuche, Heimat und Fremde zusammenführt. Der Künstler Benoît Aubard hat auf ein Bettlaken „Homesick“ (Heimweh) gesprüht, während Susanne Kutter in ihrem Film „Die Zuckerdose“ die überwältigende Enge eines Wohnzimmers zeigt, in dem die Wände die Einrichtung förmlich zerquetschen.

Besucher können mit App an Umfrage teilnehmen

Einige Stationen wurden bewusst leer gelassen; sie sollen sukzessive mit Hörstücken gefüllt werden, „um zu zeigen, dass für neue Heimaten Platz geschaffen werden muss“, so Amelie Klein. „Ich finde es spannend, welche Geschichten die einzelnen Objekte erzählen, was in ihnen mitschwingt, wie sie ein Gefühl von Heimat suggerieren“, sagt MK&G-Direktorin Tulga Beyerle. Auch sie hat sich seit ihrem Antritt mit dem Ausstellungsthema beschäftigt.

Flankiert werden die Exponate von großen, im Raum stehenden Texttafeln, auf denen das Publikum befragt wird: „Brauchen Sie das Meer, um Heimat zu fühlen? Den Wald? Die Heide? Wenn Sie Ihre Heimat verlassen, wo beginnt die Fremde? Wo liegt Ihre Heimat? In Deutschland? In Ihrer Erinnerung?“ Die Selbstbefragung, die dadurch ausgelöst wird, ist Teil der Ausstellungskonzeption. Über eine App, die sich mit dem Museums-WLAN verbinden lässt, können Besucherinnen und Besucher vor Ort ihre Antworten versenden. Diese werden dann auf die Wände im Ausstellungsraum projiziert.

Fragen in der Ausstellung werden nach und nach komplexer

Nach einem eher persönlichen Fokus werden die Fragestellungen komplexer. Welche Stimmung erzeugt der Bundesadler, stehen Sie auf, wenn die Nationalhymne erklingt? Ist man stolz auf seinen Staat, oder fühlt man sich im eigenen Land fremd? Wie steht es um das Verhältnis zu anderen Europäern? „Die Frage ist, wo du dich zuhause fühlst. Europa ist unsere Familie“, so der Künstler Wolfgang Tillmanns in einer Posterkampagne 2017.

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Oder, Perspektivwechsel, kann eine Flucht in Würde gelingen? Und können Daten Heimatverlust abbilden (wie etwa, dass aktuell jeder 107. Erdenbürger von Krieg, Vertreibung und Gewalt betroffen ist)? Apropos Vertreibung: Welche Rolle spielt der Glaube, wenn es um Heimat geht? Diese Frage wird anhand der Elfenbeinskulptur „Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies“ von Leonhard Kern (1588-1662) behandelt.

Facettenreiche Reise endet bei sich selbst

Eindrucksvoll ist die Installation „Riparal Cloud“ vom Mischer’Traxler Studio: Kommt man den großen, von der Decke hängenden Glasglocken nahe, beginnen an Fäden befestigte präparierte Insekten darin zu vibrieren, als wären sie lebendig. Botschaft: Mit der Bedrohung von heimischen Insektenarten ist auch ein Teil unserer Heimat bedroht.

Nach der facettenreichen Reise durch den Heimaten-Kosmos gelangt man schließlich doch wieder zu sich selbst, kann sich schonungslos befragen oder mit einem Augenzwinkern seinem eigenen „Heimatgefühl“ auf die Schliche kommen. Und erkennen, dass es Leerstellen braucht, um Neues, Anderes, Fremdes hinein zu lassen, um am Ende Heimat miteinander zu leben. Egal, ob wir uns die Erde oder ein Stück Pumpernickel teilen. Es geht um die Wurst!

„Heimaten. Eine Ausstellung und
Umfrage
“ bis 9.1.2022 im Museum für Kunst und Gewerbe (U/S Hauptbahnhof), Steintorplatz, Di-So 10.00-18.00, Eintritt 12,-/8,- (ermäßigt), www.mkg-hamburg.d
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