Hamburg. Don DeLillo entwirft in seinem lesenswerten neuen Roman „Die Stille“ ein uns gar nicht so fernes Katastrophen-Szenario.

Das Wörtchen „Corona“ hat Don DeLillo aus der finalen amerikanischen Fassung seines Romanes „Die Stille“ wieder herausgestrichen. In der deutschen Übersetzung von Frank Heibert dagegen steht es noch drin. Das sagt viel über die Rezeption dieses Buches aus. Als DeLillo 2018 anfing, den Kurzroman zu schreiben, war an die Pandemie noch nicht zu denken. Als er ihn im März 2020 abschloss, war die Welt eine andere. Nachträglich erst fügte er die Corona-Passage ein, um es sich wenig später anders zu überlegen. Als Kommentar zur Pandemie, wie das jetzt in den Besprechungen zu lesen ist, will der Amerikaner seinen Roman nicht verstanden wissen. Das erschien ihm viel „zu zeitgenössisch“. Wo es sich doch an sich um eine völlig zeitlose Dystopie handelt.

Aber ein Autor, der sich mit Büchern wie „End Zone“ (1972), „White Noise“ (1985) oder „Falling Man“ (2007) so nah am Zeitgeist bewegt hat, dass man ihm gerne etwas „Prophetisches“ attestierte, kommt aus dieser Schublade eben nicht mehr heraus. Dabei muss man nicht in die Zukunft schauen können, um sich ein Szenario wie das von Don DeLillo beschriebene auszumalen.

Es ist der Superbowl-Abend des Jahres 2022. Die emeritierte Physik-Professorin Diane Lucas und ihr „So-was-wie-Partner“ Max Stenner haben sich für die TV-Übertragung Gäste eingeladen. Dianes ehemaliger Student Martin, ein Experte für Albert Einstein, der immerzu sein Idol zitiert, ist schon da. Das befreundete Paar Jim Kripps, Schadenregulierer bei einer Versicherung, und dessen Frau, die Dichterin Tessa Berens, sind im Anflug.

Es entsteht eine Leere, und die einfachen Dinge gewinnen wieder an Bedeutung

In zwei sich abwechselnden Handlungssträngen, die am Ende in einen münden, erzählt Don DeLillo von der Konversation der Wartenden und der Anreise des Paars. Mit einem Mal wird alles schwarz. Totaler Blackout. Kein Strom, kein Fernsehen, kein Bord-Computer im Flugzeug. Während Jim und Tessa notlanden und erst mal ins Krankenhaus müssen, starrt der alte Max den dunklen Bildschirm an und ärgert sich, dass er sein Endspiel verpasst. Sind die Chinesen schuld? Ein Magnetfeld? „Cyberangriff, digitale Invasion, biologische Angriffe. Anthrax, Pocken, Pathogene.“ Was wird folgen? Als Max in den Flur geht, nimmt er zum ersten Mal die Nachbarn wahr. Auf der Straße kommt es zu Plünderungen. Jim und Tessa, gerade mit dem Leben davongekommen, haben währenddessen erst mal Sex auf der Klinik-Toilette.

Mit knappen Worten entwirft Don DeLillo, der selbst weder ein Handy besitzt noch E-Mails schreibt, ein Szenario, in dem Menschen plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen werden. Es entsteht eine Leere, und die einfachen Dinge gewinnen wieder an Bedeutung. Wie auf einer Bühne agieren die Charaktere. Jeder hat seine Rolle. Das Ganze hat etwas von einem Kammerspiel und bezieht seinen Reiz daraus, dass die Situation bis zum Schluss unbestimmt bleibt. Noch ist nicht klar, was passiert ist. Angst ist darum nicht das vorherrschende Gefühl. Ein Stromausfall ist in Amerika nichts Besonderes. Erst die Zukunft wird zeigen, was geschehen ist und wie es weitergeht.

Natürlich tun sich Assoziationen zur Covid-19-Pandemie auf. Lockdown, Proteste auf der Straße, allgemeiner Krisenmodus. Aber der Roman kann auch weiter gefasst als Parabel auf den Tod gelesen werden. Bevor es dunkel wird, schreibt der 84-jährige Don DeLillo sein Vermächtnis.

Don DeLillo ist immer noch ziemlich gut

Das Buch ist wie schon „Der Omega Punkt“ (2010) ein eindringliches Plädoyer für die Entschleunigung. Wohin führen Technikgläubigkeit und künstliche Intelligenz? Ist es nicht an der Zeit, sich auf menschlichere Werte zu besinnen? Wusste das nicht schon Albert Einstein? Nicht von ungefähr stellt Don DeLillo das berühmte Zitat des Nobelpreisträgers seinem Text voran. „Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie wieder mit Stöcken und Steinen kämpfen.“

Im Alter kann Don DeLillo keine fast 1000-seitigen Romane wie „Under­world“ (1997) mehr schreiben. Dafür reicht ihm die Zeit nicht aus. Auch nicht für stilistische Spielereien. Er muss sich mit der Kurzform begnügen. Vieles bleibt deshalb ungesagt. Von diesem vagen Momentum aber leben die Texte seines Alterswerks.

Ja, Don DeLillo war schon mal besser. Aber er ist immer noch ziemlich gut.