Hamburg. Regisseur Jonas Carpignanos neuestes Werk erzählt von einer 15-jährigen Italienerin und ist mit echten Familienmitgliedern besetzt.
Vorwärts, immer nur vorwärts. Chiara (Swamy Rotolo) ist immer unterwegs: Auf dem Laufband im Fitnessstudio, die Treppe hoch zur familiären Kissenschlacht, an die Promenade mit den Freundinnen heimlich E-Zigaretten rauchen und das ungeliebte Roma-Mädchen aus der Vorstadtsiedlung Ciampa dissen. Hinein in die nächste Familienfeier, als ihre Schwester Giulia (Grecia Rotolo) 18 wird und Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten kommen und alle zu Ed Sheeran tanzen.
Die Jugend einer 15-jährigen Italienerin also, so unbeschwert und fröhlich, dass es einem schon viel zu verdächtig vorkommt hier in Kalabrien an Italiens eher ärmlicher Stiefelspitze. Die Farben sind verwaschen, die Aussichten trist, die Handkamera wackelt, aber einen Teenager stört das nicht, denn man hat ja die Familie, die zusammenhält und den Rhythmus, der einen in Bewegung hält, immer und immer wieder.
Filmkritik: „Chiara“ als Abschluss einer Triologie
Es ist schon nachgerade hinterhältig, wie lange uns Regisseur Jonas Carpignano in seinem etwas anderen Mafia-Film „Chiara“ – nach „Mediterranea“ und „A Ciambra“ dem Abschluss seiner Trilogie über Italiens Süden – in Sicherheit wiegt. Ja, da sind die Männer, die plötzlich hektisch von der Familienfeier aufstehen und verschwörerisch in der Ecke stehen. Ja, da ist der Streit ihrer Eltern, tonlos für sie, aber hektisch in den Bewegungen, die in der Flucht des Vaters enden. Ja, und dann? Nach einer halben Filmstunde explodiert sprichwörtlich eine Bombe, eine Autobombe, der Papa ist verschwunden, und die Mamma und ältere Schwester sind so eingeweiht wie wortlos.
Und so erzählt „Chiara“ plötzlich eine völlig andere Geschichte. Wie die 15-Jährige erwachsen wird, weil sie die Wahrheit über ihren Vater erfahren will. Über den Mann, der bei der Familienfeier noch zu wortlos war, um einen Toast auszubringen, aber nun in den Nachrichten wegen Drogenhandels gesucht wird. Der sich offenbar in einem Bunker versteckt hielt, den Chiara zufällig in dem eigenen Haus auffindet, samt Handy, auf dem die Nummer des geheimnisvollen Onkels Antonio (Antonio Rotolo) eingespeichert ist.
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Spuren führen in die Zigeunersiedlung vor der Stadt, schließlich in ein Erdloch weit draußen im Regen, wo sich der Papa versteckt hält und die Tochter in seinen Alltag einführt: Drogen kaufen, strecken und weiterverkaufen, der Gewinn steckt in bar in einer Sporttasche: 225.000 Euro. „Sie nennen es Mafia, wir nennen es Überleben“, erklärt der Pappa.
Carpignano beschönigt weder noch klagt er an. Er zeigt im Stile des Neorealismus’ den Alltag einer Familie, die das Verbrechen weitervererbt. Wie Italiens berühmteste Filmwelle kommt die große Glaubwürdigkeit hier aus den unbekannten Darstellern, die nicht zufällig alle derselben Familie entstammen, ihre Vater-Mutter-Tochter-Geschwister-Gefühle also höchst glaubwürdig ausleben.
Diese Authentizität und die doppelbödige Inszenierung, die sprichwörtlich Abgründe süditalienischer Familienbande zeigt, machen „Chiara“ so sehenswert. Mit einer starken Hauptdarstellerin, die mitreißend im Schnelldurchgang erwachsen wird. Vorwärts, immer vorwärts.
„Chiara“ 112 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Alabama