Hamburg. „The Gate“ – mit einer App können Spaziergänger spannende Kunst an 16 Orten in der Hafen City entdecken.
Zu gerne hat Karl Lagerfeld, der 2019 verstorbene geniale Modeschöpfer und Sohn dieser Stadt, seine Mutter Elisabeth zitiert, wenn ihm das mit der „schönsten Stadt der Welt“ mal wieder auf die Nerven ging: „Hamburg ist das Tor zur Welt. Aber du musst auch durchgehen.“ Und Carsten Brosda wäre kein ordentlicher, engagierter Kulturverfechter Hamburgs, wenn er Lagerfeld nicht noch posthum entgegnen würde: „Ich weiß, dass die Hamburgerinnen und Hamburger das nicht gerne hören, aber ich würde das nicht zu gering schätzen. Denn das Hindurchgehen ist ein spannender Prozess.“
Ins Offene zu gehen, eine Schwelle zu überschreiten, ohne zu wissen, was sich auf der anderen Seite befindet. Sich während dessen bewusst zu werden darüber, wer oder was man ist. Als Mensch, aber auch als Stadt. Und wo könnte sich Hamburg besser über seine Identität befragen, sich als weltoffene, internationale Metropole definieren und gestalten, die gleichwohl ihre Handels- wie auch Kolonialgeschichte berücksichtigt, als in der HafenCity?
„The Gate“, ein Kunstspaziergang mit Audiothek per App durch den Stadtteil, will ab heute Denkanstöße, Inspiration und Auseinandersetzung bieten – „genau zum richtigen Thema, genau zum richtigen Zeitpunkt“, so Brosda, „da wir uns darüber Gedanken machen, wie wir die während der Pandemie leeren Plätze wieder mit Leben füllen wollen“.
Aus 750 Minuten Programm eine Tour zusammenstellen
Ellen Blumenstein, seit 2017 Kuratorin der Initiative „Imagine the City“, genoss an ihrem großen Tag ganz offensichtlich, dass nun endlich wieder mehr Leben und Bewegung in die HafenCity kommt. Sie hat schon mit einigen Kunstinterventionen im öffentlichen Raum für Aufsehen gesorgt, zuletzt mit „Bee Chapel“, einer freiluftigen Hausgemeinschaft zwischen dem chinesisch-kanadischen Künstler/Enfant terrible Terence Koh, und einem Bienenvolk am Elbufer.
Auch für „The Gate“ hat die einstige Leiterin des KW Institute for Contemporary Art in Berlin ihre Kontakte spielen lassen. An 16 Ein-und Zugängen der HafenCity begegnen einem nun zeitgenössische Werke internationaler Künstlerinnen und Künstler, die sich mal mehr, mal weniger konkret mit der Tor zur Welt-Metapher befassen.
Die gleichnamige App beschreibt die jeweiligen Kunstwerke, gibt auf Wunsch Empfehlungen für den Spaziergang und zeigt via Karte die jeweiligen Standorte an. Aus insgesamt 750 Minuten Programm können Besucher sich ihre individuelle Tour zusammenstellen, unterhaltsame Podcasts rund um den Stadtteil hören oder sich durch Themen wie Paradies, Kontrolle oder Potenz inspirieren lassen.
Entdecker Christoph Kolumbus in Fahnenstoff gehüllt
Im Zimmer 264 des Pierdreihotel hat sich „Karla“ dauerhaft eingemietet: Die Videoinstallation des israelischen Künstlers Omer Fast lässt drei Menschen in Interviews zu Wort kommen, die als Wächter der virtuellen Welt verdächtige Inhalte prüfen, um die Öffentlichkeit vor verstörenden Inhalten zu schützen. Dabei ist das Zimmer so hergerichtet, als hätte eine von ihnen im Hotel eingecheckt und sei gerade dabei, ihren Koffer auszupacken. Für den Besuch dieser Station ist die Buchung eines Zeitfensters vorab notwendig.
Auf den Marco Polo Terrassen, fünf Gehminuten vom Hotel entfernt, hat der argentinische Künstler Eduardo Basualdo seine schon von Weitem leuchtende Skulptur „Sonámbula“ errichtet: Eine türkisfarbene Drehtür, die nirgendwo hinführt und noch nicht einmal betretbar ist, einzig im Wind hin- und herschwingt. „Ein Element, das stört und darauf aufmerksam macht, wie dieser Ort gestaltet ist, von den auffallend zackigen Straßenlaternen bis zu den tropfenförmigen Pflanzarealen. Wie oft gehen wir durch die Welt, ohne unseren Blick auf derartige Besonderheiten zu lenken“, sagt die Kuratorin.
Vor dem Betreten der Kornhausbrücke fallen sofort die mit Fahnenstoff verhüllten Figuren auf, die hoch oben auf den Pfeilern thronen: Vasco da Gama und Christoph Kolumbus, in den Alltag integrierte Stellvertreter europäischer Kolonialherrschaft. Joiri Minaya aus den USA kleidete sie in maßgefertigte Ganzkörperanzüge aus bedruckten Pflanzenstoffen, die in indigenen Kulturen spiritueller Schutz zugesprochen wird.
Tattoo-Performances an der Oberbaumbrücke
Tamu Nkiwane aus Großbritannien nimmt temporär Besitz von einem unbebauten Grundstück und stellt ausgehend von einem alten Wohnmobil das Verhältnis von Land und Wasser auf den Kopf. Dabei stehen die Handelsgeschichte der Stadt und deren Auswirkungen auf die Geografie des ehemaligen Marschlandes im Fokus. Die Deutsche Franziska Nast verknüpft ihre Skulptur „One More Try“ eng mit der oft romantisierten Geschichte der Seefahrt und lädt zu Tattoo-Performances an die Oberbaumbrücke.
So viel künstlerischer Freigeist aus aller Welt – da hätte selbst Kaiser Karl nichts zu meckern gehabt. Auch ihn zog es trotz Jet Set-Lebens immer wieder in seine nordische Heimat zurück. Schließlich habe Hamburg, das Tor zur Welt, ja kein Schloss, hat man ihn mal sagen hören. Vielleicht klingt das für einige Hamburgerinnen und Hamburger etwas versöhnlicher: Hamburg – eine Stadt, die niemals schließt.
„The Gate. Ein Kunstspaziergang mit Audiothek“ bis 30. September in der HafenCity, gleichnamige App kostenlos in allen Stores abrufbar, www.imaginethecity.de