Hamburg. Die Schauspielerin Barbara Nüsse probt am Thalia Theater die Titelfigur in „Pippi Langstrumpf“. Am Sonntag ist Premiere.

Schauspielerinnen und Schauspieler können auf der Bühne alles behaupten, so ist dieser Beruf angelegt. Zu den furchtlosesten im Ensemble des Thalia Theaters zählt die 78-jährige Barbara Nüsse.

Die Grande Dame des Thalia Theaters überzeugt als Obergruppenführer Prall in Luk Percevals Fallada-Inszenierung „Jeder stirbt für sich allein“ ebenso wie als junges Mädchen in Jette Steckels Roman-Adaption „Das achte Leben (für Brilka)“. Nun darf sie das vielleicht berühmteste Mädchen der Literaturgeschichte verkörpern: „Pippi Langstrumpf“. Bis zuletzt probt das Ensemble unter der Regie von Jette Steckel für die Premiere am 6. Juni.

Pippi Langstrumpf beging 2020 ihren 75. Geburtstag

Es war Jette Steckels Idee, das Stück genau in dieser Besetzung zu inszenieren und der Corona-Krise den positiven Lebenswillen eines unerschrockenen Mädchens entgegenzusetzen. Pippi Langstrumpf beging 2020 ihren 75. Geburtstag und Steckel entdeckte sie mitten im Thalia-Ensemble: „Barbara Nüsse ist Astrid Lindgren und Pippi in Personalunion, so wie wir alle immer alle Alter in uns tragen.“ Nüsse, die Furchtlose, zögerte nicht lange und sagte zu.

Jetzt sitzt die zierliche Schauspielerin auf der Probebühne und freut sich unbändig darauf, nach Monaten der Stille endlich wieder spielen zu dürfen. „Ich habe keine Langeweile, aber das war eine sehr bedrückende Zeit“, sagt Barbara Nüsse mit ihrer klaren schönen Stimme. Sie sei es gewohnt, geistig und körperlich immer in Bewegung zu sein. Das verbindet sie mit der Langstrumpf-Autorin, die mit 80 Jahren noch auf Bäume kletterte. „Natürlich ist Pippi Langstrumpf ein Kind, aber ein ungewöhnliches“, sagt Barbara Nüsse. „Es negiert die Vorschriften der Welt und macht sich seine eigenen Gesetze.“

Furchtlos und voller Spieltrieb: Barbara Nüsse
Furchtlos und voller Spieltrieb: Barbara Nüsse © Armin Smailovic | Unbekannt

Änderungen am Stück mit Augemaß

Nüsse nennt es das „Pippi-Prinzip“. Die Dinge auf den Kopf zu stellen, von anderen Seiten zu betrachten, umzudrehen. „Dadurch wird der Kopf frei und man schaut anders auf die Dinge.“ Das Eigenwillige erzeugt natürlich auch Widerstände. Im Spiel sei es die Herausforderung, den Geist der Figur einzufangen, die Unabhängigkeit, die Geradheit, die beinahe etwas Autistisches habe. „Es geht auf keinen Fall darum, ein Kind zu spielen“, sagt Nüsse entschieden. „sondern eine Haltung zu verkörpern.“

Regisseurin Jette Steckel und ihr Team erzählen mehrere Episoden des 1945 erstmals erschienenen Stoffes wie „Das tosende Meer“ oder „Spunk“ auf Basis des von Astrid Lindgren verfassten Theaterstückes, in denen natürlich auch die Freunde Tommy und Annika, das Pferd Kleiner Onkel und der Affe Herr Nilsson auftreten. Das Stück vom Ende der 1970er-Jahre findet Barbara Nüsse „sehr langweilig“ und „uralt“. Mit Augenmaß wurden Änderungen vorgenommen – im Rahmen der streng vom Oetinger Verlag überwachten Möglichkeiten.

Für Nüsse und Steckel ist es die vierte Zusammenarbeit. Das Regisseurin-Schauspielerin-Duo hat bereits in „Das achte Leben (für Brilka)“, „Sturm“ und „Die Katze und der General“ künstlerisch harmoniert. Dabei haben beide bereits um 2010 mit Beginn der Ära Joachim Lux am Thalia Theater angefangen, aber erst Jahre später zum ersten Mal miteinander gearbeitet.

"Barbara ist eine Welt, in der alles möglich ist"

„Wir haben uns richtig gefunden. Jette hat eine ziemlich genaue Vision von dem, was sie inszenieren möchte, warum ein Text sie interessiert und wie sie ihn erzählen will“, sagt Barbara Nüsse. „Dadurch entsteht eine Welt, in die man gleich eingeladen wird, mit ihr zu denken – und auch mal zu widersprechen.“ Für Jette Steckel ist Barbara Nüsse vollkommen offen, alles zu spielen, dabei bleibt sie immer sie selbst. „Sie ist weise und naiv, jung und alt, Mann und Frau – Barbara ist eine Welt, in der alles möglich ist“, findet Steckel.

Die Inszenierung „Pippi Langstrumpf“ ist zwar ein Familienstück (ab acht Jahren), dennoch wird die Welt nicht wie eine Villa Kunterbunt aussehen. „Es hat nichts Niedliches. Das wäre für das Stück falsch“, erzählt Barbara Nüsse. „Das Schönste wäre, wenn Erwachsene es sich mit ihren Kindern zusammen anschauen.“ Die Zuschauer können sich neben einer originellen Bühne und fantasievollen Kostümen auf einige Bühnentricks der mit magischen Kräften begabten Pippi Langstrumpf freuen. Auch auf Tanz und einige Lieder, an denen sogar die Band Deichkind beteiligt war.

Barbara Nüsse findet Pippi „eigentlich eine Superheldin“

Die Proben sind für Nüsse auch körperlich sehr fordernd. Das Lernen des Textes jedoch bereitet ihr keinerlei Mühe. Dieser hier sei zwar ein – gut geschriebener – leichter Prosatext, aber man müsse die Raffinessen herauslesen. Pippi Langstrumpf gilt heute vielen als eine literarische Vorläuferin des Feminismus. Mit dieser Ansicht kann Barbara Nüsse nicht viel anfangen. „Sie ist eine Nonkonformistin ohne Programm. Sie hat kein Bewusstsein für ihr Mädchensein. Ich finde diese Vereinnahmungen sehr simpel“, so Nüsse. „Das ganze Stück ist eine Utopie und Pippi Langstrumpf eigentlich eine Superheldin.“

Pippi Langstrump (1968), gespielt von Inger Nilsson, ist die Furchtlosigkeit in Person.
Pippi Langstrump (1968), gespielt von Inger Nilsson, ist die Furchtlosigkeit in Person. © picture alliance / United Archives/IFTN | United Archives/IFTN

Mit ihren 78 Jahren verfügt die Schauspielerin über eine lange, mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Karriere, gespickt mit zahlreichen glückhaften künstlerischen Begegnungen von Hansgünther Heyme bis Niels-Peter Rudolph. Ihre grundsätzliche Offenheit hat sie sich immer bewahrt. „In jeder Zeit muss man Texte auch anders erzählen.“ Diese Haltung ist es auch, die Thalia-Intendant Joachim Lux an ihr schätzt. „Sie hat ein hohes Ethos gegenüber dem Schauspielerberuf und begreift ihn aus dem Respekt vor dem Künstlertum der Autoren und ihrer Sprache. Gleichzeitig ist sie alterslos und jung geblieben, offen für das Kindliche im Menschen.“ Astrid Lindgren und Barbara Nüsse würden sich sicher gut verstehen.

„Pippi Langstrumpf“ Familienstück ab 8 Jahren, Premiere So 6.6., 18.00, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44