Hamburg. Das zweite Buch von Reemtsma-Sohn Johann Scheerer ist Traumabewältigung, Entwicklungsroman, Zeugnis einer normal-abnormalen Jugend.
Zum Schluss, an einem Ende, das den Helden vor einer Fahrt ins Offene sieht, in die Freiheit oder jedenfalls eine Form davon, zum Schluss also gibt es dann doch noch eine überraschende Nähe zum Vater. Dabei ist Johann vermutlich auf einen psychotischen Freund hereingefallen, der angeblich Informationen über das Lösegeld beschaffen kann. Johann ruft den Vater erneut an, dessen Anerkennung er unbedingt will, den er aber wieder enttäuschen muss. Aber Jan Philipp Reemtsma ist gar nicht sauer auf seinen Sohn. Er erzählt ihm eine Art Parabel, in der es um ebenjenes Lösegeld geht, das 1996 floss, um ihn, den insgesamt 33 Tagen Entführten, endlich freizubekommen.
In der Geschichte, die Reemtsma seinem Sohn am Telefon erzählt, ist das Geld markiert. So wie die Hände des Entführten selbst. „Dieses Geld hat uns verfügbar gemacht. Und sosehr du in deinem Alltag versuchst, die Spuren zu verwischen, wird es immer wieder Menschen geben, die während einer noch so wichtigen Unterhaltung nur auf deine blauen Hände schauen. Und nicht in deine Augen“, sagt Jan Philipp Reemtsma.
„Unheimlich nah“ setzt an, wo vorheriger Roman endet
„Unheimlich nah“, das zweite Buch des Hamburger Autors und Tonstudiobetreibers Johann Scheerer, ist so wie das erste, 2018 erschienene und zu Recht hochgelobte „Wir sind dann wohl die Angehörigen“, das auf fesselnde und intime Weise von der Entführung aus Sicht der Zurückgebliebenen berichtete, ein Traumabewältigungstext. Neben vielem anderen: Der autobiografische Stoff ist auch Coming-of-Age-Geschichte, Familienroman und das Zeugnis einer so normal-abnormalen Jugend, von der, Tatsache, einfach erzählt werden muss.
„Unheimlich nah“ setzt da an, wo „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ endete. Mit dem Eintauchen in die veränderte Realität nach den dramatischen Frühlingswochen des Jahres 1996, mit der Besichtigung mehrerer beschädigter Leben.
Buch gewährt private Blicke auf die Person Reemtsma
Und damit ist auch fraglos das Leben Reemtsmas gemeint. Aber eben besonders dasjenige des Teenagersohns, der hier in der Ich-Perspektive erzählt. Die stärksten Stellen des eindringlichen Textes betreffen oft beide, Vater und Sohn. Dass er dabei private Blicke auf die seit der Entführung bekannte und öffentliche Person Reemtsma gewährt, kann man interessant finden. Vor allem ist es unerlässlich für die Charakterzeichnung des jugendlichen Helden, der seine Kämpfe auszufechten hat, nicht wenige von ihnen eben auch mit dem Vater. Das Buch trägt dennoch die Gattungsbezeichnung „Roman“, und das ist nicht unwichtig.
Die eingangs erwähnte, sich nicht unbedingt anbahnende neue Nähe zwischen Vater und Sohn, dieser zarte Moment während eines Telefonats, äußert sich in etwas, das der Sohn als einen stillen Tränenausbruch des Vaters deutet. Die Gefühlsregung saugt augenblicklich all die Anstrengung und Belastung aus seinem Körper, „es war, als ob sich eine jahrelang gehaltene Spannung mit wenigen Atemzügen löste“.
Im Buch geht es um das Leben eines Elbvororte-Kids
Von den Anstrengungen und Belastungen im Leben des in privilegierte Verhältnisse hineingeborenen Elbvororte-Kids Johann Scheerer berichtet dieses Buch. In seine Themen, Pubertät, Selbstfindung, das Abnabeln und dessen Erschwernisse, das Bewältigen einschneidender Ereignisse, eng eingewoben ist die alltägliche Absurdität, die jene Themen im Innersten infiziert, beeinflusst, verändert. Die Familie wird, aus Furcht vor Trittbrettfahrern und Nachahmern, nach der Entführungsgeschichte Jan Philipp Reemtsma rund um die Uhr von bis zu einem Dutzend Personen- und Objektschützern bewacht.
Die Einsatzzentrale der Schutz-Armada befindet sich im zweiten Haus auf dem Grundstück in Blankenese, ebenjenes, auf dem Reemtsma entführt wurde. Als seine Eltern dem Heranwachsenden erzählen, was künftig für ihn Normalität sein wird, schießt Johann ein Gedanke durch den Kopf, der die anfängliche Sensation des Geschehens bemisst: „Ich werde jemand mit Bodyguards sein.“
Klares Distinktionsmerkmal im Hinblick auf Gleichaltrige. Wie dem Jungen dann aber so langsam dämmert, was die Rundumüberwachung wirklich bedeutet, das schildert der sachliche und zurückgenommene Erzähler Johann Scheerer nachvollziehbar.
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Er muss die Beschützer per SMS benachrichtigen, sobald er das Haus verlässt. Sie sind immer über den Aufenthaltsort informiert, fahren ihn zur Schule, holen ihn ab. Sie stehen, wenn Partys gefeiert waren, vor der Location. Die anfängliche Aufregung über sein Exponiertsein verkehrt sich in den Willen zur Geheimhaltung. Aber natürlich wissen die meisten, wer die Männer sind, die sich immer in Johanns Nähe befinden. „Überall, sei es im Kino, im Block House am Othmarschener Bahnhof, wo wir uns nach der Schule regelmäßig Pommes mit Knoblauchbrot holten, im Park oder nachts in den Straßen von Klein Flottbek, an all den Orten, an denen wir waren, weil unsere Eltern dort nicht waren, waren nun wieder Erwachsene bei mir. Superuncool.“
Die Nöte von Jung-Johann, dessen adoleszente Coolness-Neurose als Abkömmling einer Hamburger Villen-Gegend an einem bestimmten Punkt ohnehin stärker zutage treten wird als andernorts, sind ein wiederkehrendes Motiv des Textes, der genau weiß, welche Geschichte er erzählen möchte. Die des Pubertierenden nämlich, dessen Emanzipationsbestreben und Hunger nach eigenen, vom Elternhaus losgelösten Erfahrungen von der neuen Alltagswirklichkeit mit bewaffneter Entourage behindert wird: „Ich hatte das Gefühl, dass ich phasenweise aus meinem eigenen Leben abgeschafft worden war. Alles war auf einmal so durchorganisiert, es schien gar nicht mehr nötig zu sein, dass ich noch mitlebte.“
Scheerer berichtet ausführlich, aber bisweilen gewissermaßen zu explizit von seiner Mannwerdung im Angesicht der wehrhaften, körperlich gestählten Personenschützer. Es hätte eine literarischere Anmutung, würde er die habituellen Unsicherheiten des Heranwachsenden, die durch den täglich vorgelebten militärischen Modus der Maskulinität verstärkt werden, allein szenisch schildern und ohne die unverzügliche Einordnung des Geschehens. Die Bodyguards sitzen im Urlaub mit am Pool, sie bringen ihm Selbstverteidigung bei (und hauen ihm dabei die Nase kaputt), sie nehmen ihn mit zu Schießübungen im Wald. Sie gehören mit zur Familie und doch auch wieder nicht; den Zwiespalt von Nähe und Distanz arbeitet Scheerer geschickt heraus.
Offen bleiben muss, wie groß der Wille zur absolut schonungslosen Selbsterkenntnis auf dem Weg des Schreibens, des literarischen Erinnerns ist. Sollte die Anzahl der Szenen, in denen der Erzähler als tränenvergießendes Häuflein Elend auftritt, ein Indikator für einen hohen Grad an Selbstentblößung sein, dann erreicht Scheerer leicht beinah Knausgardsche Dimensionen.
Scheerer arbeitet sich ein wenig stärker an seinem Vater ab
Noch ein wenig stärker als in seinem ersten Buch arbeitet sich Scheerer an seinem Vater ab. Emphatisch, wenn er ihn, dem schon ein normales Telefon zu modern ist, nun von Observierungstechnik umgeben sieht. Dann wieder im Stile des auch Jahrzehnte später Enervierten, der von der Sprachpedanterie des Alten berichtet. Aber es dominiert der einfühlsame Blick auf eine Familie im fortgesetzten Ausnahmezustand, zu dem Gereiztheit und Schmerz gehören.
Scheerer beherrscht es meist, in diesem stilistisch einfach gehaltenen Erzählen, plausible szenische Beschreibungen mit Reflexionen zu mischen. Zum Ende hin ist aus dem 14-, 15-jährigen Schüler mit seinen ersten Erfahrungen in der Liebe ein junger Mann geworden, der mit einer Schülerband einen Plattenvertrag bekam (auf Tour dabei: der Personenschutz) und schon nach dem Abi auszog, um im Schanzenviertel Widersprüche („Wer war ich? Wer konnte ich überhaupt sein? Ein Punk mit Personenschutz oder ein ignoranter Reicher, der sich die Codes des Undergrounds zu eigen machte?“) abzulegen und ein konsequentes Rock’n’Roll-Leben zu führen. Aber der körperlich wahrnehmbare Stress, den der jahrelange Kontrollzwang des eigenen Lebens verursachte, der ein Kon-
trollverlust war, ist nicht verschwunden.
Der Text erzählt beispielhaft vom überforderten Kind
Die Sensibilität des Blicks kann keine ganz nachträgliche sein, sie kommt am eindrucksvollsten in einer Episode zum Tragen, die die kaputt gegangenen Anteile des Familienlebens zeigt. Ein Zusammenstoß im Haus, der Vater schaut ihm unaufgefordert zugesandte Werbevideos, ein Umstand, der so viel sagt: Die Panzerglasindustrie interessiert sich für ihn, wer, wenn nicht er, könnte künftig Kunde sein? Ein Whiskeyglas steht neben dem Vater, auch eine, so schreibt der Sohn, zu spät erkannte Diabeteserkrankung macht ihm zu schaffen. Der Sohn will die Aufmerksamkeit des Vaters, aber der beachtet ihn kaum. Der Sohn raschelt mit den Unterlagen von Sony, der Gigantenmusikfirma. So lange, bis ihm der Vater ein „Jetzt hör endlich mal auf, dir vor dem Vertrag einen runterzuholen“ an den Kopf wirft.
Ist „Unglaublich nah“ die Studie eines sozusagen und notgedrungen überbehüteten, aber auch im Hinblick auf nicht kommunizierte Konflikte problematischen Aufwachsens? Das kann man so sagen. Der Text erzählt die Geschichte des ge- und vermutlich überforderten Kindes, das stellvertretend Deutungsaufgaben für die traumatisierten Eltern übernimmt. Gesprochen wurde in der Familie des Erzählers durchaus. Aber, wie Scheerer schreibt, war es ihm nicht gegeben, sich zwischen der Einsilbigkeit einerseits und den langen, erklärenden Schachtelsätzen des Vaters andererseits zurechtzufinden. „Für mich selbst fühlte es sich so an, als würde er sich Wort für Wort der Dinge um sich herum immer wieder aufs Neue versichern wollen. Dass alles noch an seinem Platz war. Mein Vater selbst aber war fort. Vor ein paar Jahren war er zurückgekommen, hatte aber einen Teil von sich nicht wieder mitgebracht. Nun suchte er unaufhörlich danach, ohne es selbst zu merken“, schreibt der Sohn Jan Philipp Reemtsmas.
„Unheimlich nah“ endet mit einem Cliffhanger. Es dürfte noch mehr kommen von dem talentierten Erzähler Johann Scheerer. Er hat einen unschätzbaren Vorteil vielen anderen Autoren gegenüber, nämlich eine Geschichte zu erzählen. Aber selbst mit biografischem Vorsprung läuft nichts wie von selbst, man muss ihn auch aufs Papier bringen.
Lesung: Im Live-Stream liest Johann Scheerer am 20. Januar um 19.30 Uhr aus seinem neuen Roman. Tickets zu 5 Euro unter literaturhaus-hamburg.de