Hamburg. Buchmarkt erholt sich. Neues von Elena Ferrante, Karl Ove Knausgard, Joachim Meyerhoff, Carmen Korn, Richard Ford und Sally Rooney.

Das Überbietungsspiel, wer denn derzeit am meisten leidet unter den Pandemie-Vorkehrungen, wird in der Kulturszene nicht dargeboten. Was sollte das auch bringen. Klar ist aber, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat. In der Literaturbranche hat es das Gewicht all der einst mit allerlei Hoffnungen geschriebenen und eingekauften Titel, die das Coronavirus im Frühjahr versenkte.

Die Titel aus dem Februar, März und April wurden zu wenig beachtet. Und jetzt kommen schon die schicken neuen Titel: Denen wird das gleiche Schicksal wahrscheinlich erspart bleiben. Es finden seit einiger Zeit wieder Lesungen statt. Und der Buchmarkt, so meldete der Börsenverein zuletzt, erholt sich auch langsam. Heißt: Das Minus bei den Buchverkäufen ist ein wenig kleiner geworden im Sommer.

Es folgt eine kleine Übersicht über das zweite Literatur-Halbjahr, unter besonderer Berücksichtigung Hamburger Aspekte.

Der G20-Gipfel ist Thema in Katrin Seddigs neuem Roman

Mit denen geht’s los, und dann gleich mit der wichtigsten Literatur-Hamburgensie des Jahres: Katrin Seddigs neuem Roman „Sicherheitszone“ (erscheint Mitte August), der zeitlich beim wichtigsten Ereignis der jüngeren Hamburger Geschichte angesiedelt ist. Er spielt im Sommer 2017, als beim G20-Gipfel Straßenschlachten geschlagen wurden. Seddig lässt in ihrem Buch den gesellschaftlichen Konflikt im Kleinen eskalieren. Nämlich den Koschmieders in Marienthal. Sohn Polizist, Tochter linksorientiert, und auch die Eltern machen Bekanntschaft mit dem politischen Kampf. Die G20-Krawalle als Familienroman: Genau so kann man das erzählen.

Seddig stellt ihren Roman am 26.8. im Literaturhaus vor (unter den Vorzeichen von Corona – es gibt nur wenige Karten!). Weitere Romane aus den Federn von Hamburgerinnen und Hamburgern sind Daniel Mellems „Die Erfindung des Countdowns“ (nominiert für den Klaus-Michael Kühne-Preis des Harbour Front Festivals, erscheint Mitte September), in dem es um die deutsche Schuld geht und allgemein menschliche Verantwortung, und Tobias Schlegls Debüt „Schockraum“ (Ende August), in dem der ehemalige Fernsehmann, spätere Notfallsanitäter und Mittlerweile-auch-Autor von einem privat und dienstlich gestressten Notfallsanitäter erzählt. Das Gesundheitssystem als literarisch beleuchtetes Milieu? Gibt unpassendere Themen in dieser Zeit. Erst für Anfang kommenden Jahres ist Johann Scheerers neues Buch „Unglaublich nah“ angekündigt, die Fortsetzung seines sehr zu Recht gepriesenen Erinnerungsbuchs an die Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma.

Es geht um das Aufwachsen unter Personenschutz, und das bedeutet: Dieser Bildungsroman, dieser Roman einer Jugend dürfte anders werden als alle anderen vor ihm. Kristof Magnussons „Ein Mann der Kunst“ erscheint im August, Stefan Lohses Zweitling „Johanns Bruder“ im September, das gilt auch für Carmen Korns „Und die Welt war jung“, dem Beginn einer neuen Trilogie der Hamburger Bestsellerautorin, die diesmal nicht nur in Hamburg spielt. Und dann wird es auch ein neues Buch der feinen Hamburger Erzählerin Sabine Peters geben, es heißt „Eine wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt“ – der schönste Titel des Jahres, aber nicht der beste, dazu später mehr – und handelt vom Aufwachsen in den 1960er-Jahren: Es waren, so sagt man ja, andere Zeiten.

Blick über Hamburg hinaus

Weiten wir den Blick über Hamburg hinaus: Namhafte Autoren wie Michael Kleeberg , der unter anderem in Hamburg aufwuchs und später studierte und arbeitete, legt mit „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ein tiefenbiografisches Werk vor (Mitte August). Von Bernhard Schlink kommen bereits dieser Tage neue Erzählungen („Abschiedsfarben“), Joachim Meyerhoff veröffentlicht in seiner gefeierten Sturm-und-Drang-Reihe „Alle Toten fliegen hoch“ ein nächstes autobiografisches Buch. „Hamster im hinteren Stromgebiet“ erzählt vom gesundheitlichen Zusammenbruch des Extremschauspielers Meyerhoff, der sich mit einem Mal auf der Intensivstation wiederfindet (erscheint im September, Lesung auf dem Harbour Front Festival in der Elbphilharmonie, 18.10.).

Es gibt Neues von Thomas Hettche („Herzfaden“, September, Lesung am 30.9. im Literaturhaus), Ralf Rothmann (den Erzählungsband „Hotel der Schlaflosen“, Oktober), Robert Seethaler („Der letzte Satz“, August, Lesung auf dem Harbour Front Festival am 27.9.), Marc-Uwe Kling („Quality Land 2.0, Oktober) und Monika Maron („Artur Lenz“, August), vom Schweizer Peter Stamm (den Erzählungsband „Wenn es dunkel wird“, September, Lesung im Literaturhaus am 10.11.) und von der Amerikanerin Nell Zink die in Brandenburg lebt („Das Hohe Lied“, August).

Damit zur internationalen Literatur, die in diesem Jahr, der Quarantäneregeln und Corona-Vorsicht wegen, leibhaftig weitaus weniger nach Hamburg kommt als sonst, zumindest wenn sie aus Übersee stammt. Lenz-Preisträger Richard Fords Erzählungsband „Irische Passagiere“, eigentlich für früher angekündigt, erscheint nun erst im September. Nach Hamburg reist er anders als geplant aber nicht, die geplante Veranstaltung mit Sänger Jackson Browne im Rahmen von Harbour Front Sounds wurde abgesagt.

Aus den übervollen Regalen der bis Ende des Jahres noch erscheinenden übersetzten Literatur seien an dieser Stelle noch einige rein den Vorlieben des Abendblatt-Kritikers entsprechende Autorinnen und Autoren genannt. Von Elena Ferrante , dank ihrer Neapolitanischen Saga eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen der jüngeren Vergangenheit, erscheint Ende August ein neues Werk (nicht wie zuletzt ein älteres, erst jetzt übersetztes): „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ spielt wieder in Neapel und ist ein allerschönster Coming-of-age-Roman um eine Heranwachsende, den auch männliche Ausgewachsene mit Gewinn lesen können.

Von Karl Ove Knausgard , dem mittlerweile in London lebenden Weltstar-Norweger, der sich einst in seinem „Min kamp“-Zyklus literarisch auszog, um allen, die es wissen wollten, sein Seelenleben zu zeigen. Mit „Aus der Welt“ (Oktober) veröffentlicht Luchterhand, Knausgard deutscher Verlag, nun sein Debüt - es handelt von der Liebe eines Aushilfslehrers in Nordnorwegen zu seiner Schülerin. Der Knausgardkenner denkt sofort an „Leben“, den vierten autobiografischen Band, in dem der junge Karl Ove Aushilfslehrer ist.

Tennisspielerin Andrea Petkovic legt ihr Debüt vor

Sally Rooneys „Normale Menschen“, (August) der Nachfolger des beinah etwas zu sehr gepriesenen „Gespräche mit Freunden“, ist ein heißer Tipp für das jüngere Lesepublikum: Einzusortieren unter „Zeitgeistroman“. Ganz anders Jean-Paul Dubois „Der bewohnt die Welt auf seine Weise“ (Ende Juli), der 2019 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde und, ein Exemplar aus diesem Genre möchte man sich jedes Jahr erlauben, „tragikomisch“ sein soll, wie sein Verlag verspricht. Unvermeidlich in diesem Zusammenhang ist Jonas Jonasson : Vom Bestsellerlieferanten aus Schweden gibt es ab Oktober „Der Massa, der in Schweden noch eine Rechnung offen hatte“ zu lesen: Es dürfte um Ethnozentrismus und Ausbeutung gehen. Wer sagt, dass solche Themen nicht im Unterhaltungssegment mit angeschlossener Komik zu Hause sein dürfen? Annie Ernaux, die große, alte französische Sozioliteratin, ist dagegen im ernsten Fach zu Hause. Mit „Die Scham“ erscheint der nächste schmale Band ihres autobiografischen Projekts, das gleichzeitig die Gesellschaftsgeschichte Frankreichs beschreibt.

Bleiben die Bereiche „Schon wieder ein Schauspielerroman“ ( Christian Berkels „Ada“ erscheint im Oktober) und „Schon kurios“. In letzterem sind wir gespannt auf den Erzählungsband „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht“ (Oktober), in dem nachdenkliche Geschichten rund um den Leistungssport erzählt werden. Verfasserin: Tennisspitzenspielerin Andrea Petkovic.

Abschließend und wie versprochen der beste Titel des zweiten Literaturhalbjahres. Er ist unschlagbar und lautet „Stand spät auf, legte mich dann wieder hin“ . So kann nur ein Kompendium heißen, das das Beste aus allen Tagebüchern der Literaturgeschichte versammelt. Wer hat’s einst so niedergeschrieben, das mit dem Imbettbleiben? Keine Ahnung. Warten wir auf den von Rainer Wieland herausgegebenen Band, er erscheint im November.