Hamburg. Die Premiere von „Shockheaded Peter“ funktioniert am Thalia auch als Livestream. Und das Böse kommt schwungvoll daher.

„Verlassen wie ein Minigolfplatz im Winter.“ Was für ein trostloses Bild. Doch bevor man schon meint, ein verbeultes Blechfähnchen im Wind quietschen und festgefrorenes Laub unter den Stiefeln knirschen zu hören, sind da stattdessen: Wärme, Licht und offene Türen. Denn auch wenn Peter Jordan der herzzerreißende Minigolfplatz-Vergleich eingefallen ist, beweist er seinem Publikum doch direkt das Gegenteil.

Jordan lässt seine Premiere am Thalia Theater nicht auf der Bühne beginnen, sondern vor dem Haus. Der Schauspieler, der am Thalia selbst lange Mitglied des Ensembles war (und dort noch immer in „Thalia Vista Social Club“ spielt), begrüßt die Zuschauerinnen und Zuschauer an diesem Abend als Regisseur zur allerersten Streaming-Premiere am Alstertor: „Shockheaded Peter“, frei nach dem Klassiker der schwarzen Pädagogik, dem „Struwwelpeter“.

Publikum des Thalia Theaters sitzt vor Bildschirmen

Zunächst aber plaudert sich Peter Jordan (der das Stück gemeinsam mit Leonhard Koppelmann einrichtete) durch den Vordereingang und an den Kassen entlang („Menschen prügeln sich um die letzten Karten!“), wird von der Kamera durch das hell erleuchtete Foyer begleitet („Das schönste Foyer, das es jemals gegeben hat!“), blickt auf die leeren Garderoben, erinnert daran, dass „gar nicht arbeiten noch schlimmer als ein bisschen arbeiten“ wäre, schlängelt sich vorbei an der Inspizientin („Wir haben alles im Griff!“) und den Nasszellen („Also, wenn Sie noch mal ...“) bis in den Zuschauerraum.

„Wie Sie sehen, sehen Sie nichts“, witzelt Jordan dort. Und tatsächlich, nach einem Jahr Pandemie kennt man den Anblick ja inzwischen, sitzt das Publikum natürlich nicht im Parkett. Sondern zu Hause an den Bildschirmen. Aber das Thalia Theater ist trotzdem kein verlassener Ort (schon gar nicht, wie der anfangs gedachte Minigolfplatz, aus Saisongründen), sondern ein höchst lebendiger, mindestens an diesem Abend. „Lustige Geschichten und drollige Bilder“, so hatte der Psychiater Heinrich Hoffmann Mitte des 19. Jahrhunderts seine Urfassung des „Struwwelpeter“ eingeordnet. Und auch wenn es in der „Junk-Oper“ von den Tiger Lillies, Julian Crouch und Phelim McDermott nicht gar so harmlos zugeht, wie der Untertitel vermuten ließe – ganz verkehrt ist er auch wieder nicht.

Struwwelpeter im Kinderknast aus Stockbetten

Acht Kameras, eine Live-Band, fünf Schauspieler und Schauspielerinnen. Denen hat Bühnenbildner Christoph Schubiger vor dem Eisernen Vorhang eine Art Kinderknast aus Stockbetten gebaut, pandemiegerechte Zellen, abgetrennt durch Plexiglasscheiben, die den weißblondperückten Spielern (Kostüme: Barbara Aigner) beim Singen und Toben spucksichere Nähe ermöglichen. Die sie durchaus suchen, auch wenn hier ein jeder seine eigenen Neurosen und Traumata pflegt.

Der verzottelte Kinderaufstand – nicht zu verwechseln mit dem menschenfreundlicheren Ungehorsam einer Pippi Langstrumpf – passt erschreckend gut in die Zeit: Ein bisschen sturmfreier Neverland-Charme wie bei Peter Pan (oder eher: Peter Punk, mit Verve und Dreadlocks gibt Julian Greis hier den Anführer), ein bisschen Grausamkeit wie beim Herrn der Fliegen – und reichlich zugespitzte Corona-Gegenwart lässt sich finden.

Zorn auf die, die „über uns bestimmen“

In diesem unfreiwilligen Lockdown-Szenario ist die Gemeinsamkeit der bleichen Drinnen-Bande, die offenkundig lange keinen Friseur mehr sah, der trotzige Zorn auf jene, die dauernd „über uns bestimmen“, indem sie halt Regeln aufstellen: „Wir lassen die das nicht mit uns machen; ehe wir uns von denen beherrschen lassen, sterben wir!“

Aber wer nicht hören will, muss fühlen, und so könnten diese renitenten Anarchos – die teilweise mehrere Figuren aus der Literaturvorlage in sich vereinen – tatsächlich eine Reihe von unartigen Zombies sein. Verendet an der schaurigen Konsequenz ihrer dogmatischen Erziehungsberechtigten.

Victoria Trauttmansdorff als Feuerteufelchen

An Hyperaktivität mangelt es keinem der Charaktere, was dem Ensemble viel Raum zu Überdrehtheit schenkt. Merlin Sandmeyer ist sowohl Tierquäler Friederich als auch Zappelphilipp, Cornelia Schirmer eine Art fleischgewordene Version von Chucky, der Mörderpuppe. Und wer am Daumen lutscht wie Konrad (Cathérine Seifert), dem erscheint (eigentlich) der böse Schneider mit der Scher’ und kürzt – klipp und klapp – die Finger.

Wobei die Musicalfassung zwar einen Haufen emotional Versehrter zeigt, aber die Vorzeichen kurzerhand umkehrt – die Finger fehlen am Ende nicht dem wehrhaften Konrad, sondern dessen Familie. Ganz wie bei Paulinchen, von dem beim „drolligen“ Hoffmann nur ein Häuflein Asche bleibt: Victoria Trauttmansdorff hat sich als fideles Feuerteufelchen selbst zur Waise gezündelt und kann davon jetzt, mit Riesenstreichholz als Mikrofon-Ersatz, ein makaberes Liedchen singen.

Rock trifft Musical-Jazz

Überhaupt: die Musik! Sie ist mal Rock, mal Musical-Jazz, mal burleskes Vaudeville und im Grunde der Star des Abends (auch weil das Ensemble derart stimmstark und singfreudig ist), der fette Sound der Band unter Leitung von Uwe Granitza macht großen Spaß. Mehr als einmal wäre Zwischenapplaus angemessen, das Böse kommt jedenfalls ausgesprochen schwungvoll daher („naughty, naughty, naughty!“).

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Die Kamera schunkelt da schon mal im Dreivierteltakt, die Verausgabung ist durch die Close-ups buchstäblich hautnah zu beobachten. Solch eine Nähe mag ein Vorteil des Streamings sein, ein Nachteil ist der geführte Blick.

Shockheaded Peter: Gang entflieht dem Gefängnis

Gern würde dieser auch mal nach eigenem Gusto mäandern, öfter auch in die Totale gehen, vielleicht die Kreidekritzeleien auf der Rückwand genauer entdecken. Wobei die animierten Zeichnungen, die einem zusätzlich gewissermaßen direkt auf die Linse gepinselt werden, durchaus eine feine Spielerei sind.

Spätestens zum Finale muss man sich dann das Aufstehen und Mitklatschen des Publikums vorstellen. Die aufmüpfige Gang ist ihrem Gefängnis entflohen, Masken auf und ab durch den Eisernen Vorhang. Manchmal ist man gar nicht so eingesperrt wie man denkt.

Eine Aufzeichnung von „Shockheaded Peter“ läuft am 24.3., 20 Uhr, auf www.thalia-theater.de