Hamburg. Der US-Autor erzählt von Wasserknappheit, Klimakatastrophe, kuriosen Ameisen und anderen Dingen, die unser Dasein bedrohen.

„Sie sind hochgradig ansteckend, und wenn Sie ohne Maske husten, können Bakterien in die Luft gelangen und Ihre Mitbewohner anstecken, und das wollen Sie doch nicht, oder?“ Natürlich verneint Marciano diese rhetorische Frage, aber die Warnung des Arztes ist ihm dennoch egal. Denn Marciano ist Mexikaner und in den USA nur ein Mensch zweiter Klasse.„Der Flüchtling“ heißt die letzte Erzählung in T.C. Boyles aktueller Geschichtensammlung „Sind wir nicht Menschen“.

Mit der Story über den kranken und mittellosen Marciano ist Boyle ziemlich nah an dem gegenwärtigen weltweiten Ausnahmezustand. Seine Figur trägt zwar nicht das Coronavirus in sich, sondern ist an Tuberkulose erkrankt, doch die Beamten von Polizei, Gesundheitsamt und Einwanderungsbehörde reagieren fast panisch auf Marciano. Dem bleibt nur die Flucht. Ohne Maske.

Kalifornien von einer fünfjährigen Dürre heimgesucht

19 Short Stories sind in dem Erzählband gesammelt, die Boyle zwischen 2011 und 2017 für verschiedene Magazine geschrieben hat. 2018 ist unter dem Titel „Good Home“ bereits ein erster Band mit neueren Erzählungen des US-amerikanischen Schriftstellers erschienen, „Sind wir nicht Menschen“ ergänzt nun die Zusammenstellung.

Boyle betrachtet die Welt darin mit wachen Augen. Ohne das Wort Klima­katastrophe zu benutzen, beschreibt er mögliche Auswirkungen einer immer fragiler werdenden Umwelt. In „Was Wasser wert ist, weißt du (erst, wenn du keins mehr hast)“ wird Kalifornien von einer fünfjährigen Dürre heimgesucht. Die strenge Rationierung von Wasser, die Millionen Menschen tagtäglich in Afrika erleben, ist plötzlich im reichen Amerika angekommen und führt nicht gerade zu nachbarlicher Solidarität.

Auch eine Schamanin, die für ihre Dienste einen Mercedes fordert, kann als Regenmacherin nicht helfen. In „Surtsey“ steht halb Alaska unter Wasser und in „Die argentinische Ameise“ verhindert eine Plage invasiver Insekten das erhoffte idyllische Landleben eines Paares. Diese Horror-Szenarien garniert Boyle mit komischen Details. Die Bekämpfung der Ameisen etwa führt zu einer Aneinanderreihung bizarrer Methoden, die natürlich alle nicht funktionieren.

Erzählungen enthält auch zwei Science-Fiction-Stories

Auch zwei Science-Fiction-Stories finden sich in „Sind wir nicht Menschen“. In „Wiedererleben“ streiten Vater und Tochter sich um eine Box, mit der man in die Vergangenheit reisen kann. Allerdings können die Nutzer der Wiedersehenstechnologie nicht ins Geschehen eingreifen, sie bleiben Beobachter. Schrill wirkt die Titelgeschichte. In ihr toben Hundekatzen und haarlose kirschrote Klon-Hunde durch die Gärten der Vorstädte.

Kinder werden auch nicht mehr auf natürlichem Weg gezeugt, sondern dank der sogenannten CRISPR-Technik im GenLab kreiert. „Willst du wirklich, dass das Kind – unser Kind – der Klassendepp ist? Oder Berufsberater wird? Automechaniker?“, fragt Connie ihren Mann zornig, weil der die Zeugungsmethode für einen unnatürlichen Eingriff hält. Zur Grundausstattung des Babys mit Modelmaßen und einem IQ von 160 können die Eltern jede Menge Extras bestellen, ähnlich wie beim Pizza-Service – nicht mit Extra-Käse, sondern vielleicht mit einem süßen Grübchen am Kinn.

Boyles Figuren ertränken ihren Frust an ranzigen Theken

Die Geschichten von T.C. Boyle spielen nie in einer Großstadt, sondern in Kleinstädten oder auf dem Land. Die etwas heruntergekommenen Bars kennt man aus dem Kino, viele der Gestalten auch. Der Autor hat die Gabe, Interieurs und Situationen sehr plastisch und detailliert beschreiben zu können, sodass Personen und Räume präsent werden und der Leser leicht Bilder assoziieren kann.

Die Short Stories sind wie gut gemachte Kurzfilme, einige wirken wie Expositionen zu einem längeren Werk. Gern würde man wissen, wie die Begegnung zwischen Mr. Mackey, dem das Auto inklusive Hund gestohlen wurde, und der Polizistin Officer Mortenson weitergeht. Oder wo die Frau eines Bergführers abgeblieben ist, die von einer Wanderung in die Slate Mountains nicht zurückkehrt.

Boyles Paare streiten miteinander, sie ertränken ihren Frust an ranzigen Theken von Läden, die „Brennan’s“ oder „Gale’s“ heißen. Viele von ihnen leben prekär, fahren klapprige Autos, fügen sich aber in ihr Schicksal, ohne von Aufbruch zu träumen.

Wenn doch jemand einen Ausbruch aus der Beziehung unternimmt, dauert der nur so lange, bis die Wirkung des Alkohols nachlässt. Diese Figuren kommen nicht aus ihrer Haut und ihren Lebensumständen heraus. Das macht sie menschlich, aber auch träge. Die großen Fragen nach der Zukunft stellt hier niemand. Außer T.C. Boyle natürlich, indem er die Geschichten dieser Menschen aufschreibt.