Hamburg. Geschlechtertausch: Michael Thalheimers „Die Räuber“ gibt am Thalia Theater den Frauen im Ensemble eine Gelegenheit, groß aufzuspielen.

Exklusives Scheinwerferlicht, reichlich davon, endlich. Aus einer schwarzen Röhre fällt es auf Franz Moor herab, ergießt sich im konzentrierten Kegel über ihn, Mengen von Licht. Dass er den Zustand genießt, kann man trotzdem nicht behaupten: Gekrümmt steht er unter diesem Zylinder wie unter einem Riesenmikroskop (Bühne: Olaf Altmann, Licht: Paulus Vogt), im krampfenden Körper all den Bruderhass gespeichert, den ganzen Minderwertigkeitskomplex exponiert wie bei Shakespeares Richard III., stockend bricht er seinen Text hervor.

Sein Vater, der alte Graf von Moor, verharrt dabei unbewegt an der Rampe, im Halbschatten. Minutenlang, ohne ein Wort. Auch seine volle Aufmerksamkeit, so scheint es, hat Franz, der Zweitgeborene, der lebenslang Vernachlässigte, in diesem Moment dank seiner Intrigen. Aber es reicht nicht, es reicht ihm nicht. Dass Merlin Sandmeyer als Franz Moor eine Art mintfarbenen Entertainer-Dreiteiler und weißgelackte hohe Schuhe (Kostüme: Nehle Balkhausen) trägt, macht ihn erst recht zur lächerlichen Figur. Hier strebt einer buchstäblich Höheres an, aber es gelingt ihm nicht.

„Die Räuber“: Blutrünstigen Frauen wird der Vortritt gegeben

Es ist, gerade in seiner räumlichen Verdichtung, ein starker Start in einen Abend, der mit einem nahezu durchweg furiosen Ensemble auch der Literatur selbst huldigt, Schillers ungestümen Sätzen und Worten eine Bühne bereitet und bei aller Werktreue fast beiläufig auch zu Überwältigungsbildern findet.

Die auffälligste Regie-Entscheidung von Michael Thalheimer, der mit Friedrich Schillers Sturm-und-Drang-Debüt „Die Räuber“ nach Jahren zurückkehrt ans Thalia Theater, hat mit der Besetzung zu tun: Merlin Sandmeyer ist der einzige Mann im Ensemble, alle weiteren Rollen – auch der Bruder Karl, auch der Vater, auch die Räuberbande – sind mit Frauen besetzt. Alle Namen bleiben wie im Original. Eine neue Idee ist das allerdings keineswegs: Schon Ersan Mondtag handhabte das so vor einiger Zeit am Schauspiel Köln (wobei er konsequenter war als Thalheimer: die Amalia übernahm bei ihm dann ein Schauspieler), auch am Lübecker Theater nahm man den Geschlechterwechsel bereits vor.

Keine Mütterlichkeit im Vater-Sohn-Konflikt

Was womöglich vor allem eines beweist: Die Männerrollen sind halt in der Regel die interessanteren. Den herausragenden Spielerinnen am Haus unbedingt auch Klassikertexte zu geben – auf welcher Position auch immer – ist also mehr als legitim. „Ist dein Name nicht Mensch?“, fragt Karl. Eben.

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Für Thalheimers Inszenierung jedenfalls lässt sich feststellen: Sie ist nicht in erster Linie aufregend, weil hier jemand irgendwas „als Frau“ spielen würde, oder weil weibliche Spielerinnen Männlichkeit zu markieren versuchen (außer als Ritual-Zitat, was dann zu einer durchaus lustigen Dosenbierduschszene führt) – sondern weil sich ein ausnahmslos glänzendes Ensemble in den Dienst dieser Aufführung, dieses Textes und dieser Rollen stellt.

Als Karl und Franz sind Lisa Hagmeister und Merlin Sandmeyer gleichermaßen umwerfend. Und wenn Victoria Trauttmansdorff als Maximilian, Graf von Moor, mit schneidend kalter Stimme zu ihrem verkommenen Zögling Franz spricht, während sie ihm den Rücken zuwendet, ist der Vater-Sohn-Konflikt auf Anhieb spürbar, da ist keine Anmut, keine dem Weiblichen zugeschriebene Weichheit, keine versteckte Mütterlichkeit.

Tanz durch stählerne Säulen

Gefangen sind die Charaktere also weniger in Geschlechterstereotypen, aber doch ihren Leidenschaften unterworfen, den Gedankenextremen. Der Idealist Karl Moor, der in Gestalt von Lisa Hagmeister zunächst souverän im fließend langen Kleid auftritt, tanzt zu Janis Joplins verzweifelter „Summertime“-Version und schmerzhaft kreischenden E-Gitarren durch einen Wald aus stählernen Säulen, über eine Lichtung, die ebenfalls alles andere als ein Freiheitsversprechen ist – während Franz sich erfolglos an seine Freundin heranwanzt.

Lisa-Maria Sommerfeld fällt dabei als Amalia die wahrscheinlich unentschiedenste der Partien zu: Im bonbonroséfarbenen Babydoll und mit verdrehten Beinchen kommt sie äußerlich wie ein kaputtes Püppchen daher, das schwächste Weib neben all den kerligen. Zwar durchschaut Amalia das Spiel – allein, es hilft ihr gar nichts. Tot ist sie am Ende trotzdem.

Großer Applaus für die Räuberbande

Die Welt durch Gräuel zu verschönern, das klappt nicht, muss auch Karl Moor feststellen. Er bleibt ein Fremdkörper in der Räuberbande, der er als Hauptmann vorsteht. Wie Lisa Hagmeister das spielt, das Zerrissene, Zerbrochene, schließlich emotional radikal Vernichtete, ist von einer enormen Vehemenz und zugleich von einer zarten Durchlässigkeit. Es gibt Szenen, da meint man sie kaum wiederzuerkennen.

Für comic relief sorgt Karin Neuhäuser, die noch aus dem Überbringen einer Todesnachricht eine räusperreiche Solonummer macht. Cathérine Seifert gibt den rücksichtslosen Charismatiker Spiegelberg mit unheilvoller Wucht (was für eine Stimme!). Wie die übrigen Räuber (ebenso kraftvoll: Sandra Flubacher, Rosa Thormeyer, Meryem Öz) sucht sie nach Gewaltexzess, Rausch und Entgrenzung, ergötzt sich an brutalen Vergewaltigungsschilderungen, ist ganzkörpergetränkt im Blut der Opfer. Zum Halloween-Vorabend passt der ganze Horror recht gut (den man sich, besonders perfide, ja vor allem vorstellen muss). Der Thalia-Jahresvorrat an Kunstblut dürfte nach diesen Orgien jedenfalls weitgehend geplündert sein.

Großer Applaus.

„Die Räuber“ am Thalia Theater (Alstertor) wieder am 4.11. und 15.11., jew. 20 Uhr (beides 2G), außerdem am 21.11., 19 Uhr (3G), sowie am 26.11. (2G). Karten unter T. 32814-444 und www.thalia-theater.de