Hamburg. Anna Vinnitskaya ist vor Corona weltweit aufgetreten. Wie sie die Krise erlebt, erzählt sie bei einem Spaziergang durch das Raakmoor.

Anna Vinnitskaya weiß genau wo es langgeht. „An der kleinen Brücke hinter der Kurve ist es besonders schön“, sagt sie und führt den Abendblatt-Fotografen an ihren Lieblingsplatz im Raakmoor. Tatsächlich ist dieses Fleckchen an der Grenze zwischen Hummelsbüttel und Langenhorn eine Idylle: Junge Birken ragen in der Sumpflandschaft aus dem Wasser, Moose überziehen die vor Jahren bei einem Herbststurm umgeknickten Baumstämme, eine Graugans beobachtet unbewegt das Geschehen.

Der Lärm der Stadt ist weit entfernt, von Glamour, der einen Star der internationalen Klassikszene umgeben könnte, keine Spur. Und genau deshalb fühlt Anna Vinnitskaya sich hier so wohl.

Anna Vinnitskaya - im Raakmoor tankt sie Kraft

Ein bisschen müde ist sie, die Nacht war unruhig, wie so viele Nächte momentan, hat die Pianistin doch vor knapp vier Monaten ihr drittes Kind bekommen. Normalerweise ist der kleine Nathan dabei und schläft im Tragetuch, wenn sie durch das Raakmoor geht („zur Entspannung und um Kraft zu schöpfen“), heute passt die Schwiegermutter auf.

Zeit, nicht nur über den Familienzuwachs zu reden, sondern auch über ihr neues Album mit Balladen und Impromptus von Chopin. Das hat sie im vergangenen Frühsommer an drei Tagen in der Harburger Friedrich-Ebert-Halle aufgenommen, erneut für das französische Label Alpha Classics, ihre künstlerische Heimat seit etwa zehn Jahren.

Eine Firma, die für die hohe Qualität ihrer Veröffentlichungen bekannt ist, aber kein internationaler Platzhirsch wie Deutsche Grammophon, Sony oder Warner. „Ich bin sehr glücklich dort“, sagt Anna Vinnitskaya. Früher habe es auch Vertragsgespräche mit den ganz Großen der Branche gegeben, aber da wurde schnell klar, dass sie kommerzielle Erwartungen würde erfüllen müssen – auf Kosten ihrer Repertoirewünsche. Doch aufnehmen, wonach ihr gerade gar nicht ist, nur um den vermeintlichen Publikumsgeschmack zu treffen? Unmöglich.

Chopin spielt Anna Vinnitskaya von Kindesbeinen an

Von Bach bis Gubaidulina, von Ravel bis Rachmaninoff reicht ihr Repertoire und derzeit ist ihr eben Chopin besonders nah. Schon von Kindesbeinen an habe sie dessen Werke immer wieder gespielt. In Russland, wo sie 1983 geboren wurde und ihre pianistische Ausbildung begann, komme kein Kind daran vorbei.

Bei der Auswahl der Stücke sei auch ein Ausschlussverfahren zum Tragen gekommen: „Wie Alfred Cortot die Préludes gespielt hat, ist ohnehin unerreichbar“, sagt sie und spricht dabei von historischen Einspielungen, die bis zu 95 Jahre alt sind. Für Anna Vinnitskaya sind sie unantastbar. Vier Balladen und vier Impromptus blieben schließlich, mit denen sie sich wirklich wohl fühlte, zu denen sie „etwas zu sagen“ hatte. Und darum, so findet sie, gehe es doch schließlich bei der Musik.

Normalerweise müsste sie jetzt die Werbetrommel rühren, ein Interview nach dem anderen geben, die Sozialen Netzwerke bedienen, Wohnzimmerkonzerte streamen – das tun, was für viele ihrer Berufskolleginnen und -kollegen Alltag ist. Doch Anna Vinnitskaya, die 2007 mit dem Concours Reine Elisabeth einen der wichtigsten Klavierwettbewerbe weltweit gewann, ist anders. Ganz anders. Sie besitze ja nicht einmal einen Computer, erzählt sie lachend beim Gang um einen kleinen Teich, in dem gerade zwischen all den gewöhnlichen Stockenten auch eine verwilderte Mandarinente schwimmt. Wie passend.

Einen Instagram- oder Twitter-Account hat sie nicht, ihre Facebook-Seite (der jüngste Eintrag ist vom September 2020) wird von ihrer Agentur gepflegt, doch die Zulieferung mit neuem Material kommt ein ums andere Mal ins Stocken: „Ich soll regelmäßig Fotos von Proben oder Konzerten schicken, aber irgendwie vergesse ich es immer wieder…“ Sie verstehe natürlich, dass es bei all dem darum gehe, den eigenen Marktwert zu erhöhen – nur: Das interessiert sie einfach nicht. 40 bis 50 Konzerte habe sie vor der Pandemie pro Jahr gespielt, auch ohne Werbemaßnahmen. „Mehr möchte ich ohnehin nicht. Ich vermisse meine Familie schon, wenn ich am Flughafen bin.“

Leben zwischen New York, Tokio und Langenhorn

So attraktiv Auftritte in New York und Tokio, mit den Berliner Philharmonikern oder dem Orchestre Philharmonique de Radio France auch sind, am Ende ist die 37-Jährige eben doch froh, wieder zurück in ihrem Haus in Langenhorn zu sein. „Wenn man irgendwann stirbt, ist es völlig egal, ob dich 200 oder 200.000 Menschen gekannt haben“, sagt sie. Ausdruck einer Bodenständigkeit, die sie für Facebook-Likes und Twitter-Retweets vollkommen unempfänglich macht.

Viel wichtiger: das aufgeregte Zwitschern der Vögel, das Blätterrauschen, das Gluckern des kleinen Bachs. „Ich bin kein Genie wie der Komponist Olivier Messiaen, der diese Klänge direkt in Musik umgesetzt hat, aber all das inspiriert mich, wenn ich dann später am Klavier sitze.“

Während die Coronakrise viele Künstlerinnen und Künstler in Verzweiflung gestürzt hat, vermag Anna Vinnitskaya dem vergangenen Jahr auch Positives abzugewinnen. Es sei mehr Zeit für ihre Kinder (10 und 7 Jahre) gewesen, sie habe die Schwangerschaft richtig genießen können und ja auch weiterhin an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater unterrichtet, an der sie eine Professur hat.

"Meine Stärke ist es wohl, immer nach vorne zu schauen"

Natürlich habe sie die Konzerte vor Publikum vermisst, aber sie sei eben nicht wie manch anderer in finanzielle Not geraten und könne täglich an ihrem geliebten Steinway-Flügel üben, den sie sich vor vier Jahren von einem Preisgeld geleistet hat. Überhaupt: „Es bringt nichts, auf das zu gucken, was alles weggefallen ist, dann fühlt man sich nur schlecht. Meine Stärke ist es wohl, immer nach vorne zu schauen.“

Was die nahe Zukunft bringt, ist auch für sie kaum absehbar. Zahlreiche Konzerte sind zwar geplant, einige aufgrund steigender Inzidenzwerte bereits wieder abgesagt, andere sollen jetzt als Livestream ohne Publikum stattfinden – oder fallen sie am Ende doch ganz aus? Und: Wird sie überhaupt in nächster Zeit ins Ausland reisen können? Oder bleibt es auch in diesem Jahr bei langen Spaziergängen durch das Raakmoor? Eines ist nach diesem Nachmittag in der Natur ganz klar: Für Anna Vinnitskaya gäbe es Schlimmeres.