Hamburg. Unter den Lockdowns hat Grönemeyer gelitten – für ihn gibt es nichts Schöneres als Konzerte. Im Juni kommt er ins Volksparkstadion.
Im kommenden Jahr geht Herbert Grönemeyer auf eine ausgedehnte Stadiontournee, die ihn am 26. Mai nach Hannover und am 6. Juni nach Hamburg ins Volksparkstadion führt. Anlass ist das 20. Jubiläum seines Erfolgsalbums „Mensch“ – das bis heute erfolgreichste deutschsprachige Album.
Grönemeyer war schon immer ein Künstler, mit dem man nicht nur über Musik reden kann. Er antwortet ausführlich und zugewandt, die charakteristische Stimme klingt fröhlich, manchmal auch nachdenklich. Ein Gespräch über „Jahrhundert der Menschlichkeit“, das Internet als „Spucknapf für alles“, über Kitsch und Selbstzweifel.
Hamburger Abendblatt: 2022 ist es 20 Jahre her, dass Ihr Album „Mensch“ damals sehr gut die Stimmungslage einfing. Die Anschläge vom 11. September lagen gerade ein Jahr zurück. Wie blicken Sie heute auf diese Zeit?
Herbert Grönemeyer: Es hatte für mich eine doppelte Bedeutung, bezogen auf die Situation der Welt. Zum einen gab es das ehemals geteilte und langsam zusammenwachsende Deutschland. Und dann weiß ich noch, wie ich in England in einem verrumpelten Zeitungsladen an der Kasse stand, als das Flugzeug auf einem Schwarz-Weiß-Monitor in den zweiten Tower flog. Ich bin dann zurück ins Studio gegangen, in dem wir gerade an einer relativ fröhlichen Nummer arbeiteten. Daraus ist „Zum Meer“ entstanden, vielleicht die stärkste Nummer auf „Mensch“. Melancholisch, aber auch optimistisch. Es geht darum, wie man mit Traumata der Vergangenheit umgeht. Wie man sich ausrichtet, um wieder nach vorne schauen zu können. „Mensch“ war natürlich auch mein eigener Versuch, aufzubrechen nach den Schicksalsschlägen, die ich erlitten hatte.
Und wo stehen wir heute?
Grönemeyer: Die Situationen ähneln einander. Wir leben in einer Zeit, die weltweit von einer unsichtbaren Bedrohung bestimmt ist. Wir sehnen uns alle in einem Aufbruch da wieder heraus. Ich bin grundsätzlich Optimist. Ich hoffe, dass wir in zwei Jahren vielleicht begriffen haben, dass wir viel mehr teilnehmen an anderen Menschen, egal wo sie leben. Weil wir alle die gleichen Sorgen haben. Insofern ist die Platte „Mensch“ nach 20 Jahren wieder der Versuch, aus der Umklammerung loszukommen und sich neu zu orientieren.
Das Album handelt ja vom Aufbruch, von einem Weg zum Meer, von einer Hinwendung zum Leben. Passt das vielleicht auch in unsere schwierige Zeit?
Grönemeyer: Wir haben ja ein Gefühl der Spaltung auch in Deutschland und generell auf der Welt, aber gleichzeitig rücken die Menschen auch zueinander. Viele Dinge kommen an die Oberfläche. Soziale Ungleichheit, Wut, Ärger. Darin steckt eine Chance. Wir kommen da nur gemeinsam heraus. Ich glaube ja immer noch, dass wir in einem Jahrhundert der Menschlichkeit leben, im Gegensatz zum 20. Jahrhundert mit seinen starken Egotrips. Wir werden die Pandemie und auch die Klimasituation nur bewältigen, wenn wir zusammenhalten. Das wollen einige nicht. Sie versuchen, die Gesellschaft zu spalten. Aber letztendlich ist der Weg vorgezeichnet.
Wie schafft man es, angesichts all dieser Krisen, dem Klimawandel, der Pandemie, den radikalen Nationalismen, nicht zu verzweifeln? Und wie kann die Kunst dabei helfen?
Grönemeyer: Kunst ist dazu da, den Kopf anzuregen. Nahrung fürs Gehirn. Auch zu provozieren, extreme Gedanken hervorzurufen. Die Kunst hat im Moment nicht sehr viel Platz. An sich ist die Kultur dafür da, Menschen zu motivieren, den Aufbruch zu stützen und Optimismus einzuflößen. Das Leben als solches in seiner Vielfalt und Schönheit zu feiern. Nicht auftreten zu können, das Gemeinschaftsgefühl nicht zu erleben, das ist auch für mich hart. Man ist ein Rennpferd und will raus. Das gehört zu meinem Leben dazu. Das fehlt massiv.
Viele Menschen sehen eine Spaltung hierzulande, die sich gesellschaftlich vollzieht, aber auch geografisch. Was kann man dagegen tun?
Grönemeyer: Ich habe mich seit den 1990er-Jahren mit dem wiedervereinigten Deutschland beschäftigt. Das kann man chronologisch von Platte zu Platte nachvollziehen. Das fing bei „Luxus“ an und ging bei „Chaos“ weiter mit der Aussage, man solle sich gegenseitig zuhören. Die Menschen aus dem Osten haben die sanfte Revolution hingekriegt. Haben sich von den Fesseln gelöst. Dann kam der Westen und meinte, wir sagen euch jetzt wo es langgeht. In meinen Augen fehlt ein Ministerium, das sich nur mit der Wiedervereinigung beschäftigt. Die Menschen fühlen sich einfach nicht gehört. Es existiert eine riesige Kluft zwischen der politischen Klasse und den Menschen, was die Kommunikation angeht.
Nachdem Sie vor zwei Jahren während eines Konzerts in Wien bei der Anmoderation des Songs „Fall der Fälle“ verkündet haben „Wir gehen keinen Millimeter nach rechts“, gab es einen Shitstorm durch AfD-Politiker und rechte Trolle, die Ihnen „Nazi-Methoden“ vorwarfen. Seither hat sich die Gesprächskultur im Netz weiter verschärft. Wie gehen Sie damit um?
Grönemeyer: Das Netz ist der Spucknapf für alles. Mir gehen auch mal schräge Gedanken durch den Kopf. Früher ist man dann in die Kneipe gegangen und hat jemanden gesucht, der zuhört. Heute kann man das alles ins Netz knallen und sofort findet man ganz viele Gleichgesinnte. Die internationale Gerichtsbarkeit muss einen Weg finden, wie man Hetze strafrechtlich verfolgen kann.
Auf Ihrem letzten Album „Tumult“ gibt es den Song „Doppelherz/Iki Gönlüm“, in dem Sie auch auf Türkisch singen. Das kam ebenfalls nicht bei allen gut an.
Grönemeyer: Wir haben selber große Zustimmung für das Lied erfahren. Aber: Ich bin ja nicht zum Kissenaufschütteln da. Dass Kunst auch provozieren muss und Standpunkte einnehmen muss, das ist ganz elementar und wichtig. Wir trommeln dafür, dass Menschen mithilfe der Musik motiviert werden, eine Haltung einzunehmen und sich auch gegen Dinge zu wenden, die undemokratisch sind. Ich muss nicht von allen gemocht werden.
Ist Popmusik eine Gratwanderung zwischen Aufklärung und Unterhaltung?
Grönemeyer: Ja, deswegen sitzt man ja auch zusammen beim Essen. So bin ich groß geworden. Ich mache das seit fast 50 Jahren. Immer war der Auslöser, dass man sich mit Strukturen auseinandergesetzt hat. Angefangen bei den Eltern, die aus der Nazi-Zeit kamen, über die Liedermacher und Politbarden in den 1970er-Jahren. Rockmusik, heute vielleicht eher Hip-Hop, ist dafür da, dass man sich auseinandersetzt und Dinge anprangert.
Sie haben viele treue Fans und spielen stets ausverkaufte Tourneen. Manche können mit Ihren Gefühlsschilderungen aber eher wenig anfangen. Sind Pathos und Sentimentalität manchmal notwendig?
Grönemeyer: Ich glaube nicht, dass ich pathetisch bin. Ich habe nichts gegen einen gewissen Kitsch. Musik muss Menschen sentimental berühren. Ich sage nicht, dass mir das immer gelungen ist. Auch „Fall der Fälle“ ist eher nicht pathetisch, sondern leicht. Eine gewisse Wärme ist der Ansatz.
Sie waren zu Beginn Ihrer Karriere lange Jahre Schauspieler und Korrepetitor. Am Berliner Ensemble haben Sie 2015 „Faust I und II“ mit Robert Wilson erarbeitet. Am Schauspiel Bochum probte der Regisseur Herbert Fritsch ein Stück über Sie mit dem Titel „Herbert“. Dort wurden Ihre Lieder a cappella von Schauspielern gesungen. Haben Sie viel eingegriffen?
Grönemeyer: Die Premiere wurde leider eine Woche vor dem ersten Lockdown abgesagt. Derzeit ist nicht klar, wann und wo der Abend herauskommt. Ich war bei den Proben dabei, und wie Herbert Fritsch versucht, die Lieder dadaistisch aufzuknacken, das war schon sehr lustig. Da sind tolle Momente entstanden. Ich habe nur ein paar Anmerkungen eingeworfen.
Ist das Theater weiterhin ein Medium, in dem Sie sich gern bewegen?
Grönemeyer: Der „Faust“ mit Bob Wilson war ein großes Glück für mich. Ich war kein großer Theaterschauspieler, aber in dieser Welt Musik zu machen, das habe ich 14 Jahre lang genossen. Die Zeit in Bochum mit Peter Zadek, der als Person nicht einfach war, war sehr prägend für mich. In der Form, wie ich versuche, Dinge immer wieder neu zu erfinden, infrage zu stellen, manchmal chaotisch bin. Ich bin aus dem „Hamlet“ in Bochum, in dem ich den Fortinbras spielen sollte, ausgestiegen, weil mir das zu zäh war. Ich fand auch den Text komisch. Alle haben mich für verrückt erklärt, aber Zadek hat mich trotzdem ans Deutsche Schauspielhaus in Hamburg mitgenommen. Er hat mir sehr viel Selbstbewusstsein gegeben. In den Pausen traten damals bekannte Liedermacher auf. Ich habe einmal vor vier Leuten gespielt, und zwei ältere Damen sagten „Spielen Sie, junger Mann, wir zahlen hier unten ihr Essen.“
Sie sind in diesem Jahr 65 Jahre alt geworden. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf Ihre Karriere zurück? Was waren bis heute die Höhepunkte? Gab es Tiefpunkte? Auch Selbstzweifel?
Grönemeyer: Ich singe verdammt gerne, und zwar täglich. Das ist mein Elementarstes, meine Meditation. Ansonsten habe ich enorme Selbstzweifel. Ich arbeite ja gerade an einer neuen Platte. Speziell die Texte bereiten mir Kopfzerbrechen. Der Höhepunkt, was die Karriere angeht, war sicher zunächst das Theater, dann folgte eine sehr erfolglose Zeit, bevor ich 1984 „Bochum“ machte. Das war schon surreal. Damit war nicht zu rechnen. Ich hatte eine neue Plattenfirma, dort sagte man, das hört sich doch schon in Bottrop keiner mehr an. Dass die Platte dann die meistverkaufte des Jahres in Deutschland wurde, habe ich gar nicht begriffen. Die 1990er-Jahre waren stark geprägt von meiner privaten Situation und unterlagen schon einer starken Melancholie. Der zarte Ansatz, aus dieser Epoche wieder herauszukommen, war die Platte „Mensch“. Das sind die beiden Pole in meiner Karriere. Ich würde „Tumult“ von 2018 auch in diese Reihe setzen. Da sind Songs drauf, die eine sehr eigene Qualität haben.
Verraten Sie, wovon das neue Album handeln wird?
Grönemeyer: Noch nicht. Wir arbeiten seit zwei Jahren daran und nehmen jetzt seit drei Monaten auf. Ich hoffe, dass es Ende 2022 kommt. Dieses Album wird stark geprägt sein von der Pandemie, aber es wächst ja noch weiter. Musikalisch freue ich mich darauf. Textlich habe ich große Selbstzweifel. Das wird im Alter eher schwieriger als besser.
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Sie gehen nächstes Jahr im Sommer auf eine ausgedehnte Stadiontournee mit Konzerten auch in Hamburg und Hannover. Wollen Sie so lange live spielen wie die Rolling Stones?
Grönemeyer: Ja! Ich habe mir vorgenommen, zu spielen, bis ich 91 Jahre alt bin. So wie Charles Aznavour. Wenn ich dann umkippen würde auf der Bühne, fände ich es besonders schön. Ob dann noch einer kommt, ist eine andere Frage, aber das ist mir egal (lacht).