Hamburg. Das NDR Vokalensemble, wie es nun heißt, gab ein fantastisches Konzert in der Elbphilharmonie. Doch die Freude am Jahrestag ist getrübt.
Ein brandneues Ensemble feiert 75-jähriges Bestehen – hinter diesem Widerspruch steckt die traurige Geschichte des NDR Chors. Seinen 50. Gründungstag bestritt er einst mit 43 Mitgliedern, nun stehen 14 Sängerinnen und 12 Sänger als frisch getauftes NDR Vokalensemble in der Elbphilharmonie auf der Bühne des Großen Saals. Macht 26, als Übergangs-Schwundstufe zur angestrebten Größe von 21 Festangestellten in den kommenden Jahren. Das tut weh.
Die Musik aber macht für die Dauer eines Konzerts allen Kummer rund um das Jubiläum vergessen. Chorleiter Klaas Stok – oder muss man jetzt „Vokalensembleleiter“ sagen? – und die Seinen haben sich ein intelligentes, vielseitiges Programm ausgedacht, mit dem der Chor nicht nur seine hohen Ensemblequalitäten unter Beweis stellen, sondern auch in den Solopartien zeigen kann, was für berückend schöne Stimmen er vereint.
NDR Chor lässt Musik ums Elbphilharmonie-Publikum kreisen
Konzipiert ist das Programm rund um Luft, Atem, mithin die essenziellen Bestandteile des Singens. Der amerikanische Chor-Popstar Eric Whitacre hat 2001 imaginiert, wie es wohl klänge, wenn Leonardo da Vinci, der geniale Erfinder, vom Fliegen träumen würde. In den Strukturen taucht immer wieder die für die Renaissance typische Mehrstimmigkeit auf, aber die Harmonien verorten diese mitreißende Musik in unserer Zeit. Wind weht hindurch, Glocken läuten, es ist ein körperliches Hörerlebnis, und die Künstler zeigen alle Unerschrockenheit, die einen Rundfunkchor im Umgang mit neuen Tönen auszeichnet.
Zwei wunderbar lichte, hochvirtuose Jubelgesänge von Monteverdi, exquisit begleitet vom Ensemble Schirokko und der Organistin Dagmar Lübking, rahmen „spiro“ von Jaakko Mäntyjärvi aus dem Jahre 2013 ein. Komplizierte Rhythmen überlagern sich, der Komponist hat Goethe ins Lateinische übertragen, irgendwie verfängt das nicht.
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Großes Glück stiftet dagegen Dieter Schnebels Interpretation von Bachs Contrapunctus I aus der „Kunst der Fuge“: Die Sänger verteilen sich im Raum, reichen einander Fragmente an, sodass die Musik um das Publikum kreist und alle Anwesenden zu einer Gemeinschaft verbindet. Ergreifend auch das Flehen um Geduld in „Ne reminiscaris“ von David Fennessy von 2017.
Werden aus dem NDR Vokalensemble Solisten?
Zum Schluss geben sie „Singt dem Herrn ein neues Lied“ von Bach so beseelt und beschwingt, als gäbe nicht jede Menge Fußangeln in der doppelchörigen Motette.
Erst hinterher meldet sich wieder die Wut über die allmähliche Verzwergung eines Ensembles, das in der norddeutschen Chorlandschaft immer noch Leuchtturmfunktion hat. Hoffentlich heißen sie in fünf Jahren nicht „NDR Vokalsolisten“. Und hoffentlich gibt es sie in zehn Jahren noch.