Hamburg. Neu im Kino: „Lieber Thomas“ erzählt mit starker Besetzung die Geschichte des DDR-Dissidenten, Schriftstellers und Regisseurs.
In New York wird er an der Bar angesprochen. Nicht ganz so zufällig, wie es erst scheint. Der Mann ist Verleger und will Thomas Brasch überreden, ein Buch über sein Leben zu schreiben. Denn der Dissident aus der DDR, der in den Westen ging, sei „der heißeste Scheiß seit Truman Capote“. Dafür will der Verleger sich nicht lumpen lassen. Aber Brasch schnauzt aufgebracht: „Mein Leben steht nicht zum Verkauf!“ Eine Anzahlung nimmt er trotzdem. Macht dann aber lieber einen Film daraus.
Thomas Brasch war eine der schillerndsten Figuren der deutsch-deutschen Kulturgeschichte: Dichter und Dramatiker, Opponent und Dissident, Politaktivist und Popstar. Als Brasch am 3. November 2001 mit nur 56 Jahren starb, war er indes fast vergessen. Nun aber, zum 20. Todestag, kommt der Film „Lieber Thomas“ in die Kinos, der seine Biografie erzählt. Und man muss dem Verleger aus der Bar recht geben: Diese Vita schreit förmlich nach einer Aufzeichnung.
Thomas Brasch wusste oft nicht, wer er war
Drehbuchautor Thomas Wendrich und Regisseur Andreas Kleinert hüten sich jedoch, Braschs Vita in ihrem Film „Lieber Thomas“ zu „verkaufen“. Sie zeigen vielmehr, wieso der Autor wohl wirklich nie eine Autobiografie hätte schreiben können: Weil er oft selbst nicht wusste, wer er war. Weil er sich in Posen gefiel und dahinter versteckte. Und weil er letztlich nicht nur von der Politik, sondern auch von inneren Dämonen verfolgt wurde.
Die Braschs sind ja sowas wie die Manns des Ostens. Die Eltern jüdische Exilanten, die 1947 zurückkehren, um den neuen sozialistischen Staat aufzubauen. Vater Horst ein SED-Funktionär, der bis zum stellvertretenden Kulturminister aufsteigt. Und die Söhne alle Kulturschaffende: Klaus Schauspieler, Peter und Thomas Autoren. Thomas, den Ältesten, schickt der Vater auf eine Kadettenschule der Nationalen Volksarmee, wo dieser getrimmt und getriezt wird.
Der eigene Vater verrät Thomas Brasch an die Stasi
Doch schon der Knabe will sich nicht einreihen in diesen Staat. Muckt später auch an der Uni auf und protestiert mit Flugblättern gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings. Der eigene Vater verrät ihn dafür an die Stasi, er kommt in den Knast, muss in der Fabrik malochen.
Am Theater erlebt er eine Gegenwelt mit mehr Freiheit. Aber auch hier muss er ständig mit der Zensur kämpfen. Als ein Stück von ihm noch vor der Premiere verboten wird, stellt er schließlich einen Ausreiseantrag. Und geht mit seiner Liebe, Katharina Thalbach, in den Westen. Wird dort gefeiert als neuer Star am Theater und im Kino. Aber auch hier passt er sich nicht an, verweigert sich jeglicher Vereinnahmung. Sein Leben gehört ihm. Und doch wieder nicht. Denn er gefällt sich nicht nur in den Posen als Rebell und Rocker, er versteckt sich auch dahinter. Immer auf der Suche, aber auch auf der Flucht vor sich selbst.
Film taucht in Braschs Gedankenwelt ein
Andreas Kleinert zeigt dieses Leben im ständigen Ausnahmezustand in großartigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Wie als Kontrast, als Ausrufezeichen. Denn um einfache Schwarz-Weiß-Malerei geht es ihm nicht. Im Westen schimpft Brasch nicht nur über den Osten. Das sei wie eine Frau, mit der man gute und schlechte Tage hatte, sagt er einem Reporter: „Da ziehen Sie doch auch nicht auf die andere Straßenseite und rufen: Du rote Sau.“ Und auch der Vater ist nicht der dogmatische, linientreue Sozialist, sondern einer mit eigenen Überzeugungen. Ein Leben lang arbeiten sich die beiden aneinander ab. Das wird sogar mal als Duell im Westernformat gezeigt.
Auch das zeichnet diesen Film aus: dass er nicht brav-linear Braschs Leben abhandelt, sondern zudem in seine Gedankenwelt und Schaffenswut eintaucht. Bis hin zu Wahnvorstellungen und Albträumen, die Brasch zunehmend befallen. Er flieht in Drogen, die diese Visionen aber nur befeuern. „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“, sein berühmtester Satz ist wohl nicht nur geografisch gemeint, sondern auch als Seelenzustand von einem, der immer auch neben und außer sich war. Ein Getriebener, Zerrissener. Ein Rebell nicht nur gegen die äußeren, politischen Verhältnisse, sondern auch gegen sich selbst.
Kleinert lässt eigene Erfahrungen einfließen
Lange schienen solch ambivalenteren Geschichten aus dem Osten im deutschen Kino nicht möglich. Jahrelang hat man die DDR entweder ostalgisch verklärt, in Komödien verlacht oder in Stasi-Dramen verteufelt. Dann hat Andreas Dresen sein vielfach ausgezeichnetes Biopic über den Liedermacher und Stasi-Spitzel Gerhard Gundermann gedreht. Nun folgt Kleinerts Brasch-Film. Wohl kein Zufall: Dresen und Kleinert, fast gleichaltrig, haben beide noch an der Defa gelernt und in ihren späteren Filmen sehr genau auf die Befindlichkeiten des wiedervereinigten Landes geschaut.
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Dabei lassen Kleinert und sein Drehbuchautor in „Lieber Thomas“ auch Erfahrungen einfließen, die nicht Brasch, sondern ihnen selbst widerfahren sind, symptomatisch für alle, die in der DDR aufwuchsen. Zugleich haben sie mit vielen Weggefährten gesprochen, allen voran mit der Schwester Marion Brasch, die über ihre Familie vor neun Jahren das Buch „Ab jetzt ist Ruhe“ schrieb, das auch Grundlage für Annekatrin Hendels Dokumentarfilm „Familie Brasch“ (2018) war. Sie ist begeistert von diesem Film – gerade weil er so ambivalent ist und viele „ihren“ Brasch darin vielleicht nicht wiederfinden werden. Weil er einfach zu viele Seiten hatte.
Albrecht Schuch ist der Mann der Stunde
Diese Wahnsinnsrollen zu spielen hat sich Albrecht Schuch getraut. Der Mann scheint gerade alle spannenden Parts im deutschen Film abzugrasen. Dabei sieht er Brasch keinesfalls ähnlich, hat auch nicht dessen raue Stimme. Aber er findet, erfindet sich seinen ganz eigenen Brasch in all seiner Ambiguität, indem er dessen Posen imitiert und die Risse dahinter deutlich macht. Aus dem starken Cast sticht noch Jella Haase heraus, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit Katharina Thalbach erreicht, vor allem aber auch Jörg Schüttauf, dem als Vater Brasch eine seiner stärksten und reifsten Leistungen gelingt.
„Lieber Thomas“ ist ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Film. Für alle, die Brasch noch kannten, aber auch für die, die so vielleicht erst an sein Werk herangeführt werden. Ein Film, der so mutig mit den Konventionen eines Biopics bricht, kann denn auch nicht einfach mit dem Tod enden. Sondern wieder mit einer Fantasie. Dieser Brasch steigt einfach in einen Flieger, Erfüllung eines Kindheitstraums, und steigt direkt in den Himmel auf.
„Lieber Thomas“ 157 Minuten, ab 16 Jahren, läuft im Abaton, Elbe, Koralle, Zeise