Hamburg. Der Hamburger Wolfgang Menge hat das Fernsehen mit Stahlnetz, Ekel Alfred und „3 nach 9“ geprägt – begonnen hat er als Journalist beim Abendblatt.

„Redakteur Brummber nimmt den Telephonhörer ab“ – so beginnt eine Glosse auf Seite 9 im Ressort Kunst und Wissen des Hamburger Abendblatts vom 1. Juli 1950. Darin versucht ein großer Dichter namens Goethe einen kleinen Lokalredakteur von seinem Manuskript „Heideröslein“ zu überzeugen – leider ohne Erfolg: Die Geschichte ist dem Journalisten viel zu alt, zu redundant, zu wenig dramatisch. Er empfiehlt stattdessen: „Beim Rosenpflücken schwer verletzt. Viel besser, nicht wahr? Das lesen die Leute auch.“

Die Moral von der Geschicht‘: Schon vor knapp 75 Jahren neigte die Branche zu Übertreibungen. Spannender aber noch als der Text von 1950 ist sein Verfasser: Ein gewisser Wolfgang Menge, damals 26 Jahre jung, zeichnete verantwortlich. Genau der Wolfgang Menge, der später das deutsche Fernsehen revolutionierte. Und am 10. April 100 Jahre alt geworden wäre.

Der Hamburger, der 2012 starb, erfand „Ein Herz und eine Seele“, war der Wirklichkeit mit seinen Doku-Dramen „Smog“ oder „Das Millionenspiel“ um Jahrzehnte voraus, er moderierte die erste Talkshow. Menge war zugleich Lebemann, Tausendsassa und bitterböser Spötter. Sein Freund Klaus von Dohnanyi erinnert sich im Gespräch mit dem Abendblatt: „Wolfgang Menge war der humanste Zyniker, der mir in meinem langen Leben begegnet ist: Er hatte die Welt gesehen, wie sie eben ist, illusionslos wärmte er dennoch immer einen Funken Hoffnung.“

Wolfgang Menge wuchs in Blankenese auf

Der Kaufmanns-Sohn Menge, der in Blankenese groß wurde, hatte eine behütete Kindheit und eine schwere Jugend. Seine Mutter war Jüdin, aber überlebt den Rassenwahn. Menge erzählt nur wenig vom 1000-jährigen Reich, aber so viel erinnert sein jüngster Sohn Jakob: „In Hamburg haben Blockwarte nicht so gut funktioniert.“

Als „Mischling ersten Grades“ wurde ihm die ersehnte Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend verwehrt, nach der Schule begann er eine kaufmännische Lehre und verkehrte in Lokalen, die Jazzmusik spielen, schreibt sein Biograf Gundolf S. Freyermuth. Das Buch erscheint im Mai unter dem Titel „Wer war WM? Auf den Spuren eines Televisionärs: Wolfgang Menges Leben und Werk“ im Berliner Kadmos-Verlag.

Die Nazis schickten ihn an die Ostfront, zum Kriegsende kämpfte er sich wie Zehntausende seiner Generation als Deserteur nach Hause zurück und lässt seine Entlassungspapiere fälschen. Nach dem Krieg landet er bald wegen Schwarzmarktgeschäften in Santa Fu – erst aufgrund eines rührseligen Schreibens seines Anwalts begnadigt ihn die Justiz.

Beim Abendblatt wird er kurz nach Erscheinen Reporter

Er geht zur Vorgängeragentur von dpa, verlässt Deutschland und lernt bei einem Exil-Journalisten in London das Handwerk. Als einer der ersten Reporter stellt ihn das Hamburger Abendblatt ein. Wolfgang Menge gefällt das Konzept von Axel Springer – in Großbritannien hat er das Konzept des unabhängigen, überparteilichen Journalismus kennen- und schätzen gelernt.

Er wird Teil der „Hamburger Mischpoke“ aus Journalisten und Verlegern, mit Richard Gruner ist er lange befreundet, mit Christian Kracht gut bekannt. „Springer und mein Vater kannten sich und haben sich um die Mädels gestritten“, erzählt sein Sohn Jakob.

Menges Talent blitzt schon damals auf – er schreibt über Thor Heyerdahls Kon-Tiki-Expedition, das Treffen zweier einsamer Herzen oder die letzten lebenden Erbauer des Alten Elbtunnels. Das Ende seiner Karriere beim Abendblatt kommt mit dem Gastautor Karl Aloys Schenzinger, im Dritten Reich ein tiefbrauner Dichter. Mit Schreibmaschine und viel Wut im Bauch setzt Menge am 25.10.1951 sein Kündigungsschreiben auf: „Irgendwo hat alles seine Grenze, finde ich. Meines Erachtens haben solche Burschen heute wirklich nichts mehr in einer anständigen Zeitung verloren... mit dem ,Hitlerjungen Quex‘ möchte ich nicht gemeinsam gelesen werden.“

Wolfgang Menge ging als junger Mann nach Südostasien und berichtete unter anderem aus Hongkong.
Wolfgang Menge ging als junger Mann nach Südostasien und berichtete unter anderem aus Hongkong. © privat | Privat

Was für das Abendblatt eine schlechte Nachricht ist, wird zum Glücksfall für das deutsche Fernsehen. Schon damals arbeitet er nebenbei in der NWDR-Redaktion „Unterhaltendes Wort“ – er benötigt das Geld für seinen automobilen Lebensstil – und entwickelt dort das Erfolgsformat „Adrian und Alexander“, ein so unerhörtes wie gern gehörtes Satireformat.

Aus Protest kündigt er – und geht nach Berlin

Er wechselt zur BZ nach Berlin und geht dann für „Die Welt“ als Korrespondent nach Südostasien – zunächst nach Tokio, dann nach Hongkong. Er liebt das Leben in der Fremde und kehrt doch 1957 zurück – standesgemäß mit der Transsibirischen Eisenbahn, die er als erster westliche Reporter nutzt.

„Er war Hamburger durch und durch. Manchmal habe ich ihn gefragt, warum lebst du überhaupt in Berlin, wenn in Hamburg alles besser ist?“, erzählt sein Sohn Jakob. Offenbar fragte sich das auch Wolfgang Menge. Er kaufte sich später eine Wohnung im Hochhaus an der Palmaille, um den Hafenblick zu genießen.

Für Berlin entscheidet er sich der Liebe wegen: Seine Frau Marlies drängt in die Vier-Sektoren-Stadt. „Wegen meiner Mutter ist er nach Berlin gezogen – sie war kreuzunglücklich in Hamburg als Mitarbeiterin der Esso-Mitarbeiterzeitung“, sagt Sohn Jakob. 1957 schrieb sie ihrem späteren Mann einen Brief, in der Hoffnung, nach Hongkong zu kommen. Das gelang nicht, aber vielmehr: Sie lernten sich kennen und lieben, bald wird in Hamburg geheiratet. Der bekannte Kabarettist Wolfgang Neuss schickt 100 rote Rosen. Und Menge kommentiert: „Der Idiot weiß doch, dass wir morgen in die Flitterwochen fahren.“

Ein Zufallstreffen in der Kantine verändert das deutsche Fernsehen

Mit der Hochzeit und Rückkehr nach Deutschland wird Menge nach eigenen Worten erwachsen. Zurück in der Heimat bekommt er einen neuen wöchentlichen Platz beim NDR, nun unter dem Titel „Hallo Nachbarn. Eine Sendung mit Adrian und Alexander“. Einige Jahre später wechselt das Format ins Fernsehen. Und Menge ins Fach der Drehbuchschreiber – wieder führte der Zufall Regie: Im Spätsommer 1957 trifft er seinen alten Kollegen Jürgen Roland, der damals eine Art Ur-„Aktenzeichen XY“ namens „Der Polizeibericht meldet…“ betreut.

Daraus entwickeln Roland und Menge die Serie „Stahlnetz“, den ersten Krimi der noch jungen Bundesrepublik. „Dieser Fall ist wahr! Er wurde aufgezeichnet nach den Unterlagen der Kriminalpolizei. Nur Namen von Personen, Plätzen und die Daten wurden geändert, um Unschuldige und Zeugen zu schützen“, tönt es fortan aus den Fernsehern und zieht die Zuschauer wie selten zuvor in den Bann. Die Folgen, die zwischen 1958 und 1968 ausgestrahlt werden, entwickeln sich zu echten Straßenfegern. Es folgen etliche Krimis in Zusammenarbeit mit Jürgen Roland, Edgar-Wallace-Filme wie „Der grüne Bogenschütze“ oder „Der rote Kreis“, später „Tatort“-Folgen.

1974 wird er Moderator der ersten Talkshow „3 nach 9“

Das Drehbuchschreiben ist ihm bald nicht mehr genug: Bekannt wird er einer breiten Öffentlichkeit als erster Moderator der ersten Talkshow: Von 1974 an empfängt er – mit der Pfeife im Mund – seine Gäste in „3 nach 9“, traktiert sie mit bissigen Fragen und etabliert damit ein neues Genre im deutschen Fernsehen.

Sein größter Erfolg werden die 25 Folgen von „Ein Herz und eine Seele“, die zwischen 1973 und 1976 entstehen. Obwohl sie kammerspielartig daherkommen und aus Aktualitätsgründen erst am Tag vor der Ausstrahlung aufgenommen werden, wirken sie 50 Jahre später noch aktuell: Sie beschreiben ein Stück westdeutscher Vergangenheit, den Mief deutscher Spießigkeit, die Rebellion, und durch Ekel Alfred den spießbürgerlichen Blick auf die Wirklichkeit. „Alfred Tetzlaff war immer der andere! Das war sein Erfolg“, beschreibt Menge seinen Dauerbrenner.

Elisabeth Wiedemann, Heinz Schubert, Hildegard Krekel und  Diether Krebs waren Familie Tetzlaff – und sind vielen bis heute ein Begriff.
Elisabeth Wiedemann, Heinz Schubert, Hildegard Krekel und Diether Krebs waren Familie Tetzlaff – und sind vielen bis heute ein Begriff. © imago images/Mary Evans | IMAGO stock

Wie aktuell die Folgen sind, zeigen die regelmäßigen Wiederholungen – von „Silvesterpunsch“ zum Jahreswechsel, über den „Rosenmontagszug“ zu Karneval oder in diesen Tagen den „Frühjahrsputz“. „Meine Mutter freut sich immer noch über gute Einkünfte durch die Wiederholungen“, sagt Jakob Menge. Er ist erstaunt, wie beliebt die Schwarz-Weiß-Serie auch bei jüngeren Leuten ist. Mehr als 62.000 Fans haben sich bei Facebook zusammengeschlossen, in Berlin steigt nun eine Lange-Ekel-Alfred-Nacht im Kino.

Inzwischen wird vor „Ein Herz und eine Seele“ gewarnt

Als großer Fan outete sich jüngst der bekannte Autor Jan Fleischhauer: Er bestellte im Internet die Komplettbox von „Ein Herz und eine Seele“, weil er sich vor Warnhinweisen und Neubearbeitungen fürchtete. Inzwischen gibt es für Ekel Alfred tatsächlich sogenannte Triggerwarnungen, wonach die Folgen Passagen enthalten, die diskriminierend verstanden werden können. Jakob Menge hält das für ein absurdes Missverständnis. Und verrät, dass sein Vater die wunderbare Schauspielerin Elisabeth Wiedemann, die Else Tetzlaff alias „dusselige Kuh“ spielte, die Klügste im Ensemble war.

In einem seiner späten Interviews ärgert sich Wolfgang Menge darüber, immer mit dem skurrilen Kammerspiel aus dem Ruhrpott verbunden zu werden. „Man hat darüber andere Sachen vergessen, die viel besser waren“, grollte er.

„Das Millionenspiel“ erzählte schon 1970 die Zukunft des Fernsehens

Tatsächlich hat er Drehbücher geschrieben, die nicht nur auf der Höhe der Zeit waren, sondern ihrer Zeit um Jahre voraus. „Die Dubrow Krise“ nahm 1969 die Wiedervereinigung vorweg. Zwei besondere Meisterwerke sind „Smog“ und „Das Millionenspiel“. In „Smog“ beschreibt Menge in der Form eines Doku-Dramas die Folgen einer Umweltkatastrophe, die Regie übernimmt Wolfgang Petersen. Im Ruhrgebiet kommt es zu einer Inversionswetterlage mit massenhaften Atemwegserkrankungen, Luftverschmutzung und Fahrverboten. Der Film wirkt so echt, dass einige Zuschauer während der Ausstrahlung am 15. April 1973 besorgt beim WDR anrufen. Manche Hamburger dürften sich beim Smog 1987 an den alten TV-Spielfilm erinnert haben.

Noch visionärer gerät sein Fernsehfilm „Das Millionenspiel“, mit dem er eine Kurzgeschichte des US-Schriftstellers Robert Sheckley adaptiert. Der 95-Minüter kommt als Reality-Fernsehshow daher, in der ein Kandidat eine Million Mark gewinnen – oder sein Leben verlieren kann. Eine Woche lang jagen ihn vom Privatsender gedungene Auftragskiller. Die Zuschauer sind aufgerufen, mitzumachen, zu helfen oder den Kandidaten des Millionenspiels zu verraten. Außenreporter berichten live, Werbeunterbrechungen zerhacken die Show – was 1970 wirkt wie eine durchgeknallte Dystopie, hat streckenweise das Fernsehen der Gegenwart vorempfunden.

Als Journalist erarbeitete er seine Drehbücher

„Er war zeit seines Lebens Journalist, hat seine Ideen intensiv recherchiert und realistisch weitergesponnen“, erzählt Jakob Menge. „Eigentlich hat er Squid Game um ein halbes Jahrhundert vorempfunden.“ Die Realityshow von 1970 mit einem großartigen Moderator Dieter Thomas Heck und dem Jung-Tarantino Dieter Hallervorden als grandiosen Auftragskiller wiederholt der WDR am Montag um 23 Uhr.

Jakob Menge mag hingegen den Zweiteiler „Ende der Unschuld“ am liebsten. Der Fernsehfilm des Regisseurs Frank Beyer beschreibt die Arbeit der deutschen Physiker um Werner Heisenberg, die in einer deutschen Atombombe hätten gipfeln können. „Dieser Fernsehfilm ist das perfekte Gegenstück zum aktuellen Film ,Oppenheimer‘ von Christopher Nolan“, sagt Menge.

„Ihn hat immer das Schicksal der normalen Menschen interessiert“

Das Schaffen seines Vaters umfasst insgesamt Dutzende Drehbücher – in seiner Serie „Reichshauptstadt privat“ spielte Jakob sogar einst als Hitlerjunge mit. „Ihn hat immer das Schicksal der normalen Menschen interessiert, ob in Preußen oder im Faschismus.“ Nicht alles gefällt dem Sohn, der selbst im Fernsehbereich für Maischberger arbeitet: Die Serie über die Germanen sei ziemlich schlecht, sagt Jakob Menge.

Er hat seinen Vater als akribischen Arbeiter kennengelernt, der am Vormittag Drehbücher schrieb und mittags dem jüngsten von drei Söhnen das Mittagessen servierte, während seine Mutter als „Zeit“-Korrespondentin über die DDR berichtete. „Mein Vater war sehr gut organisiert, hatte schon vor dem Frühstück Deutschlandfunk gehört und alle Zeitungen gelesen“, erinnert sich Jakob Menge. Und war auch typisch deutsch: Für seinen Sohn hatte er die Sonderangebote aus der Zeitung ausgeschnitten, die der dann nach der Schule einkaufen musste. Kochen war eine weitere Leidenschaft des Hamburgers – Menge hat sogar ein chinesisches Kochbuch verfasst.

Wolfgang Menge kam über den Journalismus zum Drehbuchschreiben. Einem breiten Publikum wurde er als Moderator von „3 nach 9“ bekannt.
Wolfgang Menge kam über den Journalismus zum Drehbuchschreiben. Einem breiten Publikum wurde er als Moderator von „3 nach 9“ bekannt. © picture-alliance / dpa | Klaus_Franke

Nur sein letztes großes Filmprojekt, eine Serie über eine jüdische Familie, scheiterte Anfang der 00er-Jahren am mangelnden Mut der Fernsehmacher. 2012 starb Wolfgang Menge in Berlin, doch bei der Beerdigung wurde viel gelacht, weil Otto Sander der Trauergesellschaft Beschwerdebriefe von Wolfgang Menge vorlas.

Mehr zum Thema

Wolfgang Menge wäre am 10. April 100 Jahre alt geworden. Seine Filme werden noch in 100 Jahren Klassiker sein.