Hamburg. Sensationell gut: Asmik Grigorian in der Titelrolle von Strauss‘ „Salome“ an der Staatsoper, inszeniert von Dmitri Tcherniakov.
Ein Konversationsstück in der feinen Gesellschaft, na ja, okay. Kennt man mehr als eines, kennt man zu viele. So geht es scheinbar nur mittelspannend los mit dieser „Salome“, in einem Bühnenbild, das wie ein zweieiiger Zwilling jenes „Elektra“-Interieurs daherkommt, die der Regisseur Dmitri Tcherniakov in Runde eins seiner Strauss-Trilogie im Herbst 2021 auf die Bühne der Hamburgischen Staatsoper gebracht hatte: Altbau-Eleganz, hohe Decken, Außenalster-Anwohner-Aroma, altes Geld und eitle Macht, zu viel von beidem. Jede Wette schon jetzt, dass diese Inneneinrichtung auch in Tcherniakovs drittem Strauss (im Gespräch ist offenbar „Ariadne auf Naxos“) ein Déjà-vu-Comeback haben wird.
Staatsoper Hamburg: Wie schön ist die Prinzessin Salome
Das maulige Teenager-Prinzesschen, das Asmik Grigorian hier noch darstellt, in ihrer Daunenjacke vergraben und demonstrativ bocklos am Salontisch zwischen den Erwachseneren lümmelnd, wird keine zwei Stunden später tot sein und Schuld am blutigen Tod zweier Männer, gereift und gebrochen, geendet als, ja, als was eigentlich: einzig und allein als die stereotypisierte Bilderbuch-Verführerin, sengend heiß vor Lust und Selbstbewusstsein, wie Strauss sie in seinen Opernerfolg hineinkomponierte – oder doch und vor allem als Verführte? Als frühes Opfer ihres Stiefvaters Herodes, der ihr zur ersten Begrüßung vor aller Augen frontal nicht an die Schultern fasst und das dann nur das Vorspiel für ganz andere Übergriffe ist? Damit macht Tcherniakov diese Titeltragödin zu einer sehr nahen Verwandten seiner Elektra, die in einer anders dysfunktionalen Familie ähnlich kollabiert.
Am Ende dieses Premierenabends wird Grigorian jedenfalls so leer gesungen wie glücklich vor den Standing Ovations des Publikums kurz ganz allein im Rampenlicht auf die Knie gehen. Und das Staatsopern-Sortiment ist mit dieser „Salome“ um ein Stück reicher, das man mit dieser Sängerinnen-Persönlichkeit in der Hauptrolle auf keinen Fall verpassen darf und das sich weit über die Grenzen des HVV-Streckennetzes hinaus sehen und hören lassen kann.
Anfangs ist es noch schwer, nicht ständig die gut fünf Jahre alten Bilder und Töne vergleichend von der inneren Festplatte abzurufen. Im Sommer 2018 war es, dass diese Sopranistin als Romeo Castelluccis Salome bei den Salzburger Festspielen in nicht ganz zwei Stunden zum Opern-Weltstar wurde, dorthin auf den Händen getragen von den Wiener Philharmonikern und Franz Welser-Möst. In einer verrätselten, archaisch rohen Welt aus schockierenden Extremen und verstörenden Gesten war sie eine Ausnahmeerscheinung.
Staatsoper Hamburg: Asmik Grigorian ist fünf Jahre weiter auf ihrem Karriereweg
Nun also: Hamburg, die hiesigen Philharmoniker, Generalmusikdirektor Kent Nagano im Graben, neue Produktion, zurück auf Los. Grigorian ist fünf Jahre weiter auf ihrem Karriereweg, ihre Stimme ist gereift und dramatischer geworden, weniger mädchenhaft und mit den Herausforderungen gewachsen, auch schauspielerisch schont sie sich nach wie vor nicht.
Was für ein unvergesslicher Abend war das in Salzburg gewesen! Eine Intensität als Darstellerin, die schon damals in der Felsenreitschule Löcher in die Netzhaut brannte, weil man schon damals nicht glauben konnte, was passiert, wenn man Grigorian gerade in dieser Rolle zusieht. Mit einer Stimme, die schonungslos bis zum Anschlag geht und danach noch weiter ins Wahre will. Andererseits aber fähig ist, während dieser Raserei in höchsten Tönen auch noch unmittelbar sinnlich mit betörend ungeschützten Piani ein volles Haus zu verzaubern. Und das alles kann Grigorian, wieder und wieder, bis hinein in die Schlussszene, in der sie in der Staatsopern-Premiere alles gibt, was selbst dort noch an Reserven in ihr brennt.
Tcherniakov nimmt sich geradezu gemein viel Zeit, um in dieser Familienaufstellung andere Abgründe zu entblößen als nur die erwartbaren. Um dieses Ziel zu erreichen, ist der Regie auch der eine oder andere nicht ganz librettogetreue Umweg recht: Jochanaan sitzt hier nicht gefangen tief als der übliche Zottelheilige in seiner finsteren Zisterne, sondern, gelangweilt sein Buch lesend, am Rand von Herodes‘ Upperclass-Tafel, als notgedrungen geduldeter Gast und dröger Partylauneverderber im Erdkundelehrer-Outfit.
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Kyle Ketelsen ist in dieser Rolle kein dunkel dröhnendes Bariton-Kraftpaket, sondern ein stimmlich eher schlank aufgestellter Gottesmann. Violeta Urmana – in Tcherniakovs „Elektra“ war sie eine grell keifende Klytämnestra – ist nun als Herodias erneut eine feine supporting Sängerin. John Daszak – damals der Aegisth – schafft es als Herodes nicht immer, sich mit genügend Schwung ohne Nachdruck gegen das Tutti durchzusetzen.
Den Rest überlässt die Regie in der Staatsoper Hamburg dem Kopfkino des Publikums
Niemand wird hier genauso sterben, wie es im Textbuch steht (eine weitere Parallele zur Tcherniakov-„Elektra“). Nicht einer von Salomes sieben Schleiern, mit denen sie sich Jochanaans Kopf auf einem Silbertablett ertanzen will, wird zu sehen sein und erst recht nicht fallen, im Gegenteil, sie wird entlarvend neu eingekleidet. Enthüllt wird ganz ohne diesen halb transparenten Stoff, was allen in diesem Salon klar ist, sobald sie Herodes zusehen, wie er Salome ansieht. Den Rest überlässt die Regie dem Kopfkino des Publikums.
Als diese Schlüsselszene erreicht wird, ist auch das Orchester im Graben geschmeidig auf Strauss‘ detailforderndem Klangfeinschliff-Niveau angekommen, nachdem es anfangs noch auf Zimmertemperatur lauwarm vor sich hin brodelte. Der riesige Orchesterapparat, den Strauss hier auf das Sängerensemble loslässt, konnte wahrscheinlich nicht anders, als sich von Grigorians Charisma – sie singt ja fast pausenlos – mitreißen zu lassen. Bis Herodes angewidert sein „Man töte dieses Weib!“ bellt und diese Frau stirbt.
Weitere Vorstellungen: 1./4./8./15.11. (19.30 Uhr), 12.11. (17 Uhr). Die Premiere steht als Stream auf www.arte.tv sowie bei NDR Kultur zur Verfügung. Aktuelle Grigorian-CDs: Schostakowitsch Sinfonie Nr. 14 mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France, Mikko Franck (Dirigent), Matthias Goerne (Bariton) (alpha, CD ca. 22 Euro)/„Rachmaninov: Dissonance“ mit Lukas Geniusas (Klavier) (Alpha, CD ca. 20 Euro). DVD: „Salome“ (Regie: Romeo Castellucci, Dirigent: Franz Welser-Möst, Wiener Philharmoniker) Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 2018 (Unitel, ca. 25 Euro)