Hamburg/Karlsruhe. Hamburg dürfte über Jahre hinweg rechtswidrig Beiträge für Straßenausbau kassiert haben. So reagiert der Senat auf das neue Urteil.
Die Stadt Hamburg dürfte über Jahre hinweg rechtswidrig Beiträge für Straßenausbau kassiert haben. Das legt ein neues Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe nahe (AZ 1BVL1/19). Demnach ist es mit dem Grundgesetz unvereinbar, wenn Bürger zeitlich unbegrenzt mit städtischen Rechnungen für den Straßenbau vor ihrer Haustür rechnen müssen, also praktisch keine Verjährung für die sogenannte „Beitragserhebung“ eintritt. Der Senat kündigte eine Korrektur seiner Rechtsnormen an.
Die Karlsruher Richter beanstandeten die übliche Praxis, dass die Herstellung einer Straße und die Abrechnung der erbrachten Bauleistungen oft Jahrzehnte auseinanderfallen. Zwar sind die Straßen in solchen Fällen scheinbar fertig und werden auch befahren. Aber die Anliegerbeiträge werden erst abgerechnet, wenn die Straße „erstmalig endgültig hergestellt“ ist bzw. die Stadt die schon normal befahrene Straße nach den formalen Maßgaben des Landesrechts fertig gebaut hat.
Straßenbau-Gebühr: Müssen Hamburger doch nicht zahlen?
Im vorliegenden Fall hatte eine Gemeinde in Rheinland-Pfalz eine Straße 1986 gebaut, 2007 erstmalig fertig gestellt und gewidmet, um dann 2011 eine Rechnung von 70.000 Euro zu verschicken. Rechtswidrig, stellte Karlsruhe fest und gab dem Land auf, sein Kommunalabgabengesetz bis Ende Juli 2022 zu renovieren. Die Ansprüche gegen den Anlieger könnten „dem Grunde nach entfallen sein“, sprich: Die Gemeinde bleibt auf den Kosten sitzen.
„Das lässt viele Hamburger hoffen“, sagte Torsten Flomm, Vorsitzender des Grundeigentümerverbandes. „Denn auch das Hamburgische Wegegesetz enthält die beanstandete Regelung und müsste demnach novelliert werden.“ Die Hamburger Behörden erklärten auf Nachfrage, dass eine Novelle des Wegegesetzes in Arbeit sei.
In Hamburg gibt es noch immer Hunderte solcher „halb fertiger“ Straßen und Straßenabschnitte. Seit der Rechnungshof die Stadt 2013 aufgefordert hat, sie wegen der Beitragserhebung fertig zu bauen, hat die Stadt die Losung ausgegeben, jährlich 50 davon abzuarbeiten. Übrig sind noch etwa 750. Regelmäßig hat es Ärger um solche Maßnahmen gegeben: Den Anliegern fehlte jedes Verständnis für den kostenpflichtigen Ausbau ihrer Straße, den sie weder wollten noch als irgendwie notwendig akzeptieren konnten. Zahlen mussten sie trotzdem. In der Regel zwischen 3000 und 15.000 Euro. Das ändert sich mit dem Karlsruher Urteil.
Straßenbau: Ansprüche bleiben als Damokles-Schwert über Anlieger hängen
Bislang entsteht der Anspruch der Stadt auf Abrechnung der Baukosten erst mit der „erstmalig endgültigen Herstellung“. Sie ist an eine Reihe formaler Kriterien gebunden, die über die faktische Benutzbarkeit und Befestigung der Straße hinaus eine klare Abgrenzung von Fußweg und Fahrbahn verlangt, Beleuchtung und Entwässerungsanlagen fordert sowie eine baurechtliche Ausweisung als öffentliche Straße (Widmung) im Eigentum der Stadt.
Dazu kommen in der Praxis dann verkehrspolitische Ansprüche wie Poller und „Nasen“ zur Verkehrsberuhigung, die dank Bürgerbeteiligung irgendwie auf die Rechnung finden. Die späte erstmalig endgültige Herstellung kommt also wie ein Luxussanierungspaket daher, arbeitet aber praktisch fast ausschließlich juristische Kriterien ab, deren Erfüllung erst das Verschicken von Rechnungen ermöglicht.
Diese eher komplizierte Sachlage verstößt laut Gericht gegen das „Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit“ in Verbindung mit den Artikeln 2, Absatz 1 und 20, Absatz 3 Grundgesetz. Da die Gemeinde allein und ohne ersichtliche Kriterien festlegt, wann sie die scheinbar fertige Straße auch wirklich fertig baut, können die Ansprüche de facto nicht verjähren. Zwar gibt es de jure eine nachgeordnete Verjährungsfrist für die erstmalig endgültige Herstellung. Doch bestimmt allein die Stadt, wann diese Frist zu laufen anfängt. Die Ansprüche bleiben also gleichsam als Damokles-Schwert über dem Anlieger hängen, und dergleichen sieht die Verfassung nicht vor.
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Straßenbau: Hamburg will absolute Verjährungsfrist einführen
„Der Zeitpunkt, in dem der abzugeltende Vorteil entsteht, muss für den Betroffenen objektiv erkennbar sein“, heißt es im Urteil. „Betroffene dürfen nicht dauerhaft im Unklaren gelassen werden, ob sie noch mit Belastungen rechnen müssen.“ Entscheidendes Kriterium für die Abrechenbarkeit der Leistung sei allein „die tatsächliche bautechnische Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme“. Die erstmalig endgültige Herstellung mit ihrem formalrechtlichen Kriterienkatalog erfüllt diese Bedingung nicht. Der Anspruch der Stadt, die aus ihrer Sicht „halb fertigen“ Straßen auch nach Jahrzehnten noch abrechnen zu können, könnte also, wie im Fall des Pfälzer Anliegers, in vielen Fällen „dem Grunde nach entfallen“ sein.
Karlsruhe hat dem Land Rheinland-Pfalz aufgegeben, sein Kommunalabgabengesetz, die Entsprechung zum Hamburgischen Wegegesetz, in dieser Frage rechtskonform zu gestalten. Es hat auch einen Hinweis gegeben, wie dies geschehen könnte: Durch Einführung einer Verjährungsfrist, die an die tatsächliche Befestigung und Herstellung der Straße gebunden ist. Das Gericht hat auch schon gesagt, dass ihm 30 Jahre für diese Frist zu lang wären. In den meisten Bundesländern liegt sie bei zehn Jahren. Hamburg will jetzt eine solche absolute Verjährungsfrist einführen, erklärte der Senat. Wie lang sie sein wird, sagte sie noch nicht.
Im Zentrum der Abwägung sollte laut Karlsruhe die Gerechtigkeitsfrage stehen: „Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich (Bezahlung des für Anwohner vorteilhaften Straßenbaus, Anmerkung der Redaktion) und der Einzelnen an Rechtssicherheit durch entsprechende Gestaltung von Verjährungsbestimmungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen.“