Hamburg. Sozialbehörde spricht von bisher 50 Millionen Euro. Jede Spritze könnte aber bis zu 200 Euro kosten. Ärger um Impf-Termine.
Der Vertrag des Hamburger Impfzentrums in den Messehallen ist bis Ende August verlängert worden. Ursprünglich sollte das von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) im Auftrag des Senats betriebene Zentrum Ende Mai schließen. Da es aber in den Hausarztpraxen an Impfstoff fehlt und zuletzt noch mehrere Zehntausend Termine für Erstimpfungen vergeben wurden, bleiben die Türen auf St. Pauli vor allem für Zweitimpfungen länger offen.
KV-Vorstandschef Walter Plassmann sagte dem Abendblatt: „Das Impfzentrum ist effektiver, als wir gedacht hatten – wir hatten die Infrastruktur auf 8000 Impfungen am Tag ausgelegt und können nun bis zu 11.000 Impfungen ohne Probleme durchführen. Es ist so schade, dass wir die PS aktuell nicht auf die Straße bringen können.“ Plassmann forderte eine „Anschlussstruktur“, wenn das Impfzentrum geschlossen wird. Dorthin könnten dann die Menschen gehen, „die nicht zum niedergelassenen Arzt wollen oder können“.
Hamburger Impfzentrum: Können Krankenhäuser es ersetzen?
In der Sozialbehörde gebe es bereits Überlegungen, wo das sein könnte, bestätigte deren Sprecher Martin Helfrich. Auch an die beiden Krankenhäuser von Asklepios, das Agaplesion Diakonieklinikum, das Albertinen und das Bethesda müsse man dabei denken – diese impfen zurzeit Menschen ab 60. Allerdings fehlt auch ihnen ausreichend Impfstoff.
Die bisherigen Kosten des Impfzentrums bezifferte die Sozialbehörde auf 50 Millionen Euro. Das hieße grob kalkuliert rund 61 Euro pro Spritze. Bislang gab es 814.000 Impfungen insgesamt, inklusive der mobilen Impfteams und der Krankenhäuser. Bei Hamburgs Haus- und Fachärzten (Impfstart im April) wurden bis vorgestern rund 281.000 Menschen geimpft. Nach einer Schätzung aus Ärztekreisen kostet eine Spritze im Impfzentrum aufgrund der hohen Investitions- und Personalkosten aber rund 200 Euro, wie das Abendblatt erfuhr. Zum Vergleich: In Hessen schätzen Ärzte 150 Euro pro Piks in den Impfzentren des Landes.
Kein Impf-Termin beim Hausarzt: Was nun?
Die E-Mail klingt dramatisch: Matthias R. hatte einen Impftermin in seiner Hamburger Hausarztpraxis in Aussicht. Doch die Ärztin will nach den letzten Zweitimpfungen ihrer Patienten aussteigen. Der Impfstoff wird nicht wie bestellt geliefert, die Organisation ist aufwendig, die normale Versorgung kommt zu kurz. „Wo soll ich jetzt mit meiner Familie hin“, fragt sich Matthias R.
Ein neuer Hausarzt nimmt ihn nicht auf. Bei anderen Praxen wäre seine Zahl auf den Wartelisten vierstellig. Das Impfzentrum in den Messehallen macht nur noch Zweitimpfungen und auf absehbare Zeit keine neuen Termine. Und überall wird um Impfstoff gebettelt.
Sozialbehörde und Kassenärztliche Vereinigung (KV) bestätigen dem Abendblatt die aktuelle Misere. Im Ländervergleich der Impfquoten ist Hamburg (jetzt 41,0 Prozent) vom wochenlangen Verharren im Bundesdurchschnitt (jetzt 43,2 Prozent) weiter abgesackt. „Ich kann den Frust vieler Hausärzte verstehen, weil die Versorgung mit Impfstoff nach wie vor schlecht und vor allem völlig unkalkulierbar ist“, sagte KV-Chef Walter Plassmann. „Es mussten Termine abgesagt werden, weil die gelieferte Menge weit unter der bestellten lag.“ Leichte Hoffnung besteht, weil es „in den kommenden Wochen“ mehr Impfstoff von Johnson & Johnson geben soll. Dieser muss nur einmal verimpft werden, was die Organisation vereinfacht.
Dr. Dirk Heinrich: Impfzentrums-Ärztesprecher beklagt Lieferengpässe
In einer Woche im Mai haben die Niedergelassenen aufgrund der Verunsicherung über Astrazeneca und ihrer zögernden Bereitschaft zum Impfen rund 30.000 Impfdosen nicht abgerufen, die ihnen zugestanden hätten. Jetzt sei es so, dass „nie die bestellte Menge kommt“, wie ein Hausarzt dem Abendblatt sagte, dem auch zu wenige Spritzen geliefert wurden. In den Praxen ist bei wachsendem Patienten-Frust Improvisation gefragt.
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Der Sprecher der medizinischen Leiter im Impfzentrum und HNO-Arzt Dr. Dirk Heinrich schrieb gestern bei Twitter: „Ein viel zu ruhiger Nachmittag erwartet mich heute im Impfzentrum. Nur 2490 Zweitimpfungen heute und das 3 Tage lang. Das tut schon weh, wenn wir unsere Kapazität mangels Impfstoff nicht ausreizen können.“
Corona-Debatte in der Bürgerschaft
Die Debatte in der Bürgerschaft zur aktuellen Corona-Lage war von zwiespältigen Einschätzungen geprägt. Einerseits zeigten sich fast alle Redner erfreut, dass die Infektionszahlen stark zurückgehen und wieder mehr Öffnungen möglich sind. Andererseits mahnten parteiübergreifend viele Abgeordnete, dass die Pandemie noch nicht vorbei sei. „Sollten wir den Wettlauf zwischen Impfungen und Ausbreitungen neuer Virusmutationen gewinnen, kommen wir in eine stabile Lage“, sagte die Grünen-Fraktionsvorsitzende Jennifer Jasberg. Sollte das aber nicht gelingen und zum Beispiel die indische Virusmutante in Europa Fuß fassen, gegen die offenbar erst die zweite Impfung schütze, könne „die Situation eintreten, dass zum Ende der Sommerferien etwa 60 Millionen Menschen in diesem Land nicht ausreichend geschützt sind“.
Jasberg mahnte: „Unter keinen Umständen können wir es uns leisten, dass im Herbst eine vierte Welle die Gesellschaft lahmlegt.“ Man werde daher „alles in unserer Macht Stehende tun“, um das durch Testen, ein Abwassermonitoring, die Sequenzierung der PCR-Tests und die konsequente Kontrolle von Reiserückkehrenden zu verhindern.
"Bei uns bleibt nichts liegen"
Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) warnte vor überzogenen Erwartungen anlässlich des Wegfalls der Impfpriorisierung am kommenden Montag: Auch dann bleibe der Impfstoff knapp, auch dann werde es noch dauern, bis 12- bis 15-Jährige geimpft werden könnten und auch dann werde im städtischen Impfzentrum an der Priorisierung festgehalten. Denn es „stimmt einfach nicht“, so Leonhard, dass bereits alle besonders gefährdeten Menschen einen Schutz erhalten hätten. Hamburg impfe daher, so schnell es gehe: „Bei uns bleibt gar nichts liegen.“
Ob und wie sich in Hamburg das Infektionsgeschehen analog zu den Lockerungsschritten entwickelt, muss sich zeigen. Gab es am Dienstag überraschend viele Neuinfektionen (108), sank diese Zahl gestern wieder auf 49. Das sind 17 weniger als am Mittwoch vor einer Woche. Die Sieben-Tage-Inzidenz (Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner) sank von 25,2 auf 23,7. In der Vorwoche lag er bei 31,3. Die Zahl der seit Beginn der Pandemie an oder im Zusammenhang mit dem Coronavirus in Hamburg gestorbenen Menschen stieg laut Robert-Koch-Institut (RKI) um zwei auf 1565.
Insgesamt haben sich seit Beginn der Corona-Pandemie laut Sozialbehörde nachweislich 76.387 Hamburgerinnen und Hamburger mit Sars-CoV-2 infiziert. 72 700 von ihnen gelten nach RKI-Angaben als genesen. In den Hamburger Krankenhäusern wurden mit Stichtag Dienstag 92 Corona-Patienten behandelt, das waren drei weniger als am Vortag. Auf den Intensivstationen lagen 42 Menschen mit einer Covid-19-Erkrankung, fünf weniger als am Montag. Von diesen Intensivpatienten kommen 25 aus Hamburg.