Hamburg. … und die Bürger an den Politikern. Hamburger beachten zu oft die Corona-Regeln nicht, der Senat redet ungern über eigene Fehler.
Dass Bürger ihr Recht, die Politik kritisieren zu dürfen, gern ausgiebig in Anspruch nehmen, ist ein Wesensbestandteil von Demokratien. Nicht nur, aber gerade in Corona-Zeiten werden dabei auch mal Grenzen des Anstands überschritten, wie etwa Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erfahren musste, der im Sommer wüst beschimpft worden war.
Dass umgekehrt die Regierenden die Bürger kritisieren, ist dennoch eher unüblich – Wählerschelte kommt halt nicht gut an. Doch hier hat das Virus durchaus etwas verändert. Denn wenn der Erfolg von Politik, in diesem Fall also die Eindämmung einer Pandemie, entscheidend davon abhängt, wie diszipliniert die Bürger sich an die Regeln halten, dann kann man als Politiker über mangelnde Disziplin in Teilen der Bevölkerung naturgemäß schwer hinwegsehen.
So am Mittwoch in der Bürgerschaft. Im Anschluss an die Regierungserklärung von Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) zum erneuten Lockdown ließ SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf verbal Frust ab: „Dass die Infektionszahlen in Hamburg wieder gestiegen sind, hat etwas mit unserem Verhalten zu tun“, stellte er fest. „Das ist nicht über uns gekommen.“
Auch der Bürgermeister hatte sich schon fassungslos über das Fehlverhalten einiger Bürger gezeigt
Und Kienscherf nannte auch Ross und Reiter: „Dass man gemeinsam in Eppendorf Glühwein in großer Runde trinkt und nur wenige Hundert Meter weiter Ärzte und Pfleger verzweifelt um das Leben eines Menschen kämpfen – da ist etwas nicht richtig“, kritisierte er, sichtlich darum bemüht, nicht noch deutlicher zu werden. Tatsächlich hatten die Menschentrauben, die sich an manchen Wochenenden rund um Dutzende Glühweinstände auch in Ottensen und Winterhude gebildet hatten, auch vielen Mitmenschen die Haare zu Berge stehen lassen – kurz darauf wurde der Ausschank stadtweit verboten.
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Auch der Bürgermeister hatte sich schon fassungslos über das Fehlverhalten einiger Bürger gezeigt. „Wer in einem Keller hinter verschlossenen Türen eine Party mit fast 100 Leuten veranstaltet, ohne Maske, ohne Abstand, der unterläuft die gesamte Corona-Strategie und bringt uns in größte Schwierigkeiten“, hatte Tschentscher in seiner Regierungserklärung am 28. Oktober – damals ging es um die Ankündigung des Teil-Lockdowns – geschimpft. „Das ist unverantwortlich in dieser kritischen Lage.“
Und als dieser Teil-Lockdown Mitte November immer noch nur so halbherzig wirkte, konnte auch Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) ihre Enttäuschung über manche Mitbürger nicht verbergen: „Anders als im März schauen die Menschen stark darauf, was noch erlaubt ist und was sie noch tun dürfen – und tun das dann auch“, sagte sie im Abendblatt-Interview und fügte hinzu: „Das trägt dazu bei, dass wir noch nicht da sind, wo wir sein wollen.“
Auch der Senat hat Fehler gemacht
Sind also die Hamburger – oder zumindest eine Minderheit von ihnen – selbst schuld, dass wir Weihnachten nicht zu Oma und Silvester kein Feuerwerk zünden dürfen? Die Opposition in der Bürgerschaft hat da noch eine andere Sichtweise. Das unsolidarische Verhalten einiger sei nur „ein Teil der Wahrheit“, brachte es die FDP-Politikerin Anna von Treuenfels-Frowein auf den Punkt. Der andere Teil der Wahrheit sei, dass auch der Senat Fehler gemacht habe, über die er nur nicht so gern spreche.
In der Tat sucht man in den Reden des Bürgermeisters meist vergeblich nach einem Anflug von Selbstkritik. Was man stattdessen fast immer findet, ist das unterschwellige Selbstlob, dass Hamburg ja etwas besser dastehe als viele andere Bundesländer und Großstädte. Das ist zwar korrekt, aber, so Treuenfels: „Mit dieser Haltung machen Sie es sich ein bisschen zu leicht.“
Beispiel Alten- und Pflegeheime: Obwohl seit dem Frühjahr klar war, dass es höchste Priorität haben muss, das Virus von den älteren Menschen fernzuhalten, ist das nicht gelungen. Derzeit grassiert Corona in mehr als 50 Hamburger Pflegeheimen, fast 600 Bewohner und mehr als 230 Beschäftigte sind infiziert. Die Folgen sind fatal: Da 85 Prozent der Corona-Toten älter als 70 waren, muss trotz Lockdowns zunächst von weiter steigenden Todeszahlen ausgegangen werden. In Behördenkreisen wird „eine gewisse Ratlosigkeit“ eingeräumt: Umfangreiche Hygienemaßnahmen, Einschränkungen für Besucher, Maskenpflicht, mittlerweile auch Schnelltests – das sei in den Heimen ja alles gemacht worden. Letztlich hätte wohl nur eine stärkere Abschottung mehr Sicherheit gebracht – das sei aber als Konsequenz aus der Vereinsamung vieler Betagter im ersten Lockdown nicht mehr gewollt gewesen.
„Das hätte alles viele früher kommen können"
Während der Bürgermeister am Mittwoch nur darauf verwies, dass der Bund nun älteren Menschen und Risikopersonen FFP2-Masken gratis zur Verfügung stelle, wäre aus Sicht von FDP-Politikerin Treuenfels mehr Tempo nötig gewesen: „Das hätte alles viele früher kommen können und müssen, und es hätte womöglich Leben retten können.“
Beispiel Schulen und Kitas: Die mantraartige Behauptung des Schulsenators, dass Schulen „sicherere Orte“ seien, entsprach zwar im Sommer noch der Einschätzung vieler Experten, hat sich später aber als falsch herausgestellt. Mindestens ältere Schüler sind genauso empfänglich für Corona und ebenso ansteckend. Und auch bei Grundschülern und Kitakindern deuten Studien mittlerweile darauf hin. Folge: An 208 Hamburger Schulen gibt es derzeit Corona-Fälle, seit den Herbstferien haben sich mehr als 3000 Schüler und Lehrer infiziert.
Dass die zweite Welle von der Entscheidung begünstigt wurde, nach den Sommerferien wieder mit voller Präsenzpflicht – und anfangs sogar ohne Masken im Unterricht – zu starten und dies auch bis vor Kurzem durchzuziehen, liegt auf der Hand, kommt in den Reden des Senats aber nicht vor. Während Gewerkschaften, Lehrerverbände und Elternkammer scharfe Kritik übten (ebenso wie das Personal der geöffneten Kitas), zählte der Bürgermeister am Mittwoch nur auf, was Hamburg für die Schulen leiste: „Kein anderes Bundesland bietet so viele Schutzmaßnahmen."
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Das Eingeständnis, zu spät gehandelt zu haben, ist aus dem Rathaus nicht zu hören
Dass die Bereitschaft zu einer kritischen Reflexion so gering ausgeprägt ist, überrascht auch insofern, als der Senat durchaus gute Argumente anführen könnte: dass den Kindern Bildungschancen entgehen, dass ihnen das soziale Umfeld und Bewegung fehlen, dass sie mehr häusliche Gewalt erleben und dass viele Elternhäuser mit der Doppelbelastung aus Arbeit und Homeschooling überfordert waren – das alles sind ja Erfahrungen aus dem ersten Lockdown und Gründe, warum Schulen und Kitas geöffnet blieben. Indes: Wer sich auf diese Debatte einlässt, müsste auch erklären, warum 40.000 extra angeschaffte Laptops und Tablets an Schulen kaum einsatzfähig sind und warum nach zehn Monaten Pandemie noch nicht einmal die Rechtslage für die Übertragung des Unterrichts per Videostream geklärt ist.
Beispiel harter Lockdown: Dass dieser deutlich eher hätte kommen müssen, ist inzwischen nahezu Konsens. Das Eingeständnis, zu spät gehandelt zu haben, ist aus dem Rathaus dennoch nicht zu hören, wie nicht nur CDU-Fraktionschef Dennis Thering kritisierte: „Wenn die Regierungschefs bereits vor neun Wochen auf die mahnenden Worte unserer Kanzlerin gehört hätten, dann hätten wir jetzt mit großer Sicherheit eine deutlich bessere Ausgangslage.“ Allerdings: Thering hatte sich die Worte „seiner“ Kanzlerin auch nicht zu eigen gemacht. Stattdessen lautet seine „oberste Priorität“ Ende Oktober noch, „einen vollständigen Lockdown zu verhindern“.
Mithin: Auch die Bürger haben allen Grund, an der Politik zu verzweifeln. Eigentlich wäre in zwei Wochen die perfekte Gelegenheit für beide Seiten, sich mal die Meinung zu sagen – der Neujahrsempfang des Senats. Doch der muss natürlich auch ausfallen.