Hamburg. Der Chef des Hamburger Nachrichtendienstes, Torsten Voß, warnt vor Rechtsextremismus und einer “unglaublichen Enthemmung“ im Netz.

Er ist Vorsitzender des Arbeitskreises Verfassungsschutz der Innenministerkonferenz – und wurde nach der Ablösung Hans-Georg Maaßens als möglicher Bundesverfassungsschutzchef gehandelt: Torsten Voß. Der neue rot-grüne Senat hält an dem CDU-Mitglied als Chef des Hamburger Verfassungsschutzes fest. Voß sieht in der Bekämpfung des Rechtsextremismus einen Schwerpunkt seiner Arbeit.

Herr Voß, von wem geht in Hamburg die größere Gefahr für die Demokratie aus – von rechts oder von links?

Torsten Voß Ich neige nicht dazu, die Gefährlichkeit von Extremismus zu vergleichen. Denn dann läuft man immer Gefahr, eine bestimmte Gefahr zu relativieren. Aber die größte Gefahr für unsere Demokratie geht derzeit ohne Zweifel vom Rechtsextremismus aus.

Wie hat sich die rechtsextremistische Szene in Hamburg verändert?

Unsere neue Spezialeinheit stößt auf Rechtsextremisten, die in der realen Welt kaum oder gar nicht mehr präsent sind, aber in der virtuellen Welt immer präsenter werden. Das Internet hat sich meiner Einschätzung nach zum bedeutendsten Raum für die Vernetzung und Radikalisierung von Rechtsextremisten entwickelt. Den Rechtsextremismus des 21. Jahrhunderts, also auch die Vernetzung von sogenannten Neuen Rechten, darunter die rechtsextremistische Identitäre Bewegung, würde es ohne das Internet so nicht geben.

Wie viele Hamburger rechnen Sie dem Rechtsextremismus zu?

In Hamburg gibt es gut 330 Rechtsextremisten. Und von denen gelten etwa 130 als gewaltorientiert.

Wie haben sich die Zahlen entwickelt?

Es gibt seit Jahren einen Rückgang beim strukturierten bei gleichzeitigem Anstieg des unstrukturierten Rechtsextremismus. Das heißt, wir stellen mehr Einzelpersonen fest, mehr lose Verbindungen und lockere Netzwerke, die aber nicht mehr als Organisation gesehen werden. Beispielsweise ist in Hamburg die Zeit der Kameradschaften vorbei. Eine große Herausforderung für uns sind Täter, die vorher gar nicht in extremistische Strukturen eingebunden waren und die Ideologie möglicherweise nur als Rechtfertigung der Tat benutzen – aber am Ende vor allem psychisch krank sind.

Es wird also zunehmend schwerer für den Verfassungsschutz, Entwicklungen und Radikalisierungen in der Szene zu beobachten?

Es wird in der Tat immer schwerer. Wenn man sich die mutmaßlichen Täter von Halle oder Hanau anschaut, sprechen wir von Menschen, die eine bestimmte psychische Auffälligkeit haben und eine rechtsextremistische Ideologie verfolgen, ohne in konkrete Strukturen eingebunden gewesen zu sein. Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass wir jetzt die spezielle Einheit für die operative Internetrecherche haben. Mit ihr können wir im Ozean des World Wide Web tiefer tauchen. Inzwischen kommunizieren Rechtsextremisten crossmedial.

Das heißt, sie nutzen soziale Netzwerke genauso wie beispielsweise Spieleplattformen. So kann es sein, dass an einem Wochenende Hunderttausende weltweit auf einer Plattform für Gewaltspiele unterwegs sind und dort kommunizieren. Das ist eine enorme Herausforderung. Wir müssen unseren Schwerpunkt in der Internet-Aufarbeitung setzen. Deshalb ist geplant, die Internet-Spezialeinheit weiter aufzustocken, um den digitalen Rechtsextremismus weiter aufzuklären.

Welche Erkenntnisse hat Ihre Spezialeinheit denn in den vergangenen Monaten gewonnen?

Über alle Erkenntnisse kann ich natürlich nicht offen sprechen. Aber wir stellen immer mehr fest, dass Internetplattformen auch Motor der Entgrenzung im Rechtsextremismus sind, um neue Anhänger im demokratischen Spektrum zu gewinnen. Es wird beispielsweise versucht, Heranwachsende und junge Erwachsene durch eine bestimmte Rap-Musik subtil zu unterwandern, so wie es früher mit rechtsextremistischen Schulhof-CDs versucht wurde. Das heißt, man versucht rechtsextremistische Ideologien über Musik zu transportieren.

Was mich sehr beunruhigt, ist, dass wir eine unglaubliche Enthemmung feststellen. Wir gehen mit dem Ziel ins Netz, Rechtsextremisten zu detektieren. Das gelingt uns auch. Wir stoßen dabei auf bestimmte Profile. Dahinter verstecken sich Menschen, die wir bis dato gar nicht kannten – und die man deshalb auch der rechtsextremistischen Ideologie nicht zuordnen konnte. Und diese Menschen posten auf einmal rechtsextremistisches Ge­dankengut oder übelste Gewaltfantasien.

In der vergangenen Woche ist der Prozess gegen den Attentäter von Halle gestartet. Haben Ihnen bekannte Hamburger Rechtsextremisten auf diesen Fall, auf den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke oder die Anschläge von Hanau reagiert?

In den Reaktionen hat sich die Hamburger Szene nicht unterschieden von anderen Bundesländern. Man hat sich davon nicht distanziert, man hat die Taten aber auch nicht befürwortet. Man hat aber Erklärungsansätze gesucht. Das waren dann auch unsägliche Verschwörungsmythen wie die, dass hinter dem Anschlag in Halle angeblich Sicherheits­behörden stünden, um danach noch intensiver gegen die rechtsextremistische Szene vorgehen zu können.

Beim Bundesverfassungsschutz scheint sich nach dem Wechsel an der Spitze von Maaßen zu Haldenwang der Blick auf die politischen Ränder verschoben zu haben – von der Gefahr durch Rechtsextremisten war vorher nicht allzu oft die Rede trotz NSU …

Der Bereich Rechtsextremismus war auch vorher schon im Verfassungsschutz-Verbund im Fokus. Die Frage ist immer, über welche Phänomenbereiche die Öffentlichkeit intensiver informiert wird. Der damalige Präsident hat stark über den Islamismus unterrichtet. Das war aber auch zu der Zeit, als die Terrormiliz „Islamischer Staat“ aktiv war und 2014 ihr sogenanntes Kalifat ausgerufen hat. Diese Gründung wiederum führte auch in Hamburg zu einer Verdopplung der Zahl der Salafisten und einer Vielzahl von Ausreisen Richtung IS.

Die Öffentlichkeit über dieses Phänomen intensiv zu unterrichten war berechtigt. Nach den Anschlägen von Kassel, Halle und Hanau legen wir den Fokus auch nach außen hin sehr viel deutlicher auf den Rechtsextremismus. Und damit auch auf bestimmte Bestrebungen innerhalb der AfD, auch in Hamburg. Durch den „Flügel“ der AfD zählen wir bundesweit rund 8000 Rechtsextremisten mehr.

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Wie viele Hamburger AfD-Mitglieder rechnen Sie dem „Flügel“ zu?

Wir haben jetzt festgestellt, dass es auch in Hamburg AfD-Mitglieder gibt, die den rechtsextremistischen Flügel unterstützen, vor allem aus dem Bezirksverband Mitte. Wir haben mit der Aufklärung gerade begonnen und gehen bisher von einer Zahl im niedrigen zweistelligen Bereich aus. Wir beobachten die Entwicklung sehr genau.

Mit welchen Fakten wollen Sie gegebenenfalls eine geheimdienstliche Überwachung der AfD begründen?

Der „Flügel“ ist ein Faktor. Zudem: Auch von AfD-Mitgliedern wurde im Internet zeitweilig für die rechtsextremistische Merkel-muss-weg-Kampagne mobilisiert, und es gab über soziale Netzwerke Verbindungen und Kontakte. Deshalb müssen sich einzelne Führungspersonen der AfD fragen lassen, wie ehrlich ihre Abgrenzung vom Rechtsextremismus überhaupt ist.

Und wir betrachten das Verhältnis der AfD zur Identitären Bewegung. So stellte die AfD in der Hamburgischen Bürgerschaft parlamentarische Anfragen zu dieser rechtsextremistischen Gruppierung. Wenn man sich manche Formulierungen der AfD darin anschaut, könnte man die Anfragen auch als Fanpost direkt an die Identitäre Bewegung senden.

Ist nicht nur der sogenannte Flügel, sondern die Hamburger AfD an sich dabei, sich zu radikalisieren?

Zeitweise Sympathien und Kontakte zur rechtsextremistischen Anti-Merkel-Versammlungsreihe, der Duktus manch parlamentarischer Anfrage, zudem jetzt auch Unterstützer des rechtsextremistischen „Flügels“: Wir haben nicht nur bundesweit, sondern auch in Hamburg Anzeichen, dass sich die AfD möglicherweise weiter in Richtung Rechtsextremismus entwickeln könnte.

Wie konkret ist Ihre Überlegung, die Partei zum Beobachtungsfall zu erklären?

Der „Flügel“ ist nunmehr rechtsextremistisches Beobachtungsobjekt, das mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet werden kann. Wir haben einige Menschen im Fokus und beobachten, ob deren Einfluss dazu führt, dass wir die AfD als Gesamtpartei nachrichtendienstlich beobachten.

Was muss der Verfassungsschutz herausfinden, um die AfD zum offiziellen Beobachtungsfall zu erklären?

Wenn wir zum Beispiel feststellen, dass der Einfluss des rechtsextremistischen „Flügels“ auf die Gesamt-AfD steuernd und entscheidend wird, dann wird der Verfassungsschutz die Gesamtpartei in Hamburg beobachten.

Sie sprachen über die Identitäre Bewegung. Seit vier Jahren beobachten Sie die Organisation, was wissen Sie über sie?

Das sind vorwiegend jüngere Rechts­extremisten, sehr medienaffin, bundes- und europaweit vernetzt, die offensiv die sozialen Netzwerke für ihre Ideologie nutzen. Ihre Aktionen und Flashmobs wie die Besetzung der SPD-Zentrale, Flyer­verteilungen oder fremdenfeindliche Inszenierungen am Hauptbahnhof oder den Landungsbrücken arrangieren sie für die Verbreitung im Internet. Die völkisch-rassistischen Botschaften der Identitären, die bisher noch nicht als gewaltorientiert gelten, liefern den Nährboden und Pseudoargumente für mögliche Gewalttäter. Die Identitären schüren Vorurteile gegen Muslime und deren Religion sowie Ausländerfeindlichkeit. Ich bezeichne sie als geistige Brandstifter.

Wie viele Hamburger sind diesen „geistigen Brandstiftern“ zuzuordnen?

Etwa 20 bis 30 in unserer Stadt, bundesweit gut 600. Aber wir dürfen nicht nur die reinen Zahlen sehen, sondern wir müssen betrachten, was diese Neuen Rechten ideologisch ausrichten und welchen brandgefährlichen geistigen Einfluss sie auf normale Bürger und auch auf andere Rechtsextremisten, darunter Militante, haben könnten.

Ist der Verfassungsschutz gut genug aufgestellt, um herausarbeiten zu können, welche Bewegung welchen ideologischen Unterbau liefert? Wie verschiedene scheinbar unabhängige Entwicklungen und Strukturen dann doch zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen?

Das Thema „geistige Brandstifter“, die nicht militant sind, aber anderen die Ideologie liefern, beweist, dass wir unsere wissenschaftliche Analysefähigkeit weiter verstärken müssen. Wir haben unsere wissenschaftliche Kompetenz in den vergangenen Jahren ausgebaut. Für uns tätig sind unter anderem Politik-, Kultur- und Medienwissenschaftler, Historiker, Islamwissenschaftler und weitere. Der Verfassungsschutz der Zukunft muss weiter operativ tätig sein. Aber wir müssen unsere wissenschaftliche Expertise ausbauen, um unserer Funktion als Frühwarnsystem der Demokratie gerecht zu werden.