Hamburg. Abitur: SPD, Grüne, CDU und FDP wollen die Schulstruktur weitere fünf Jahre nicht antasten. Aber erst hat die Unions-Basis das Wort.
„Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder.“ Der berühmte Spruch stammt von dem französischen Rechtsanwalt und Revolutionär Pierre Vergniaud, der den Satz, in Ungnade gefallen, kurz vor seiner Hinrichtung am 31. Oktober 1793 sagte. Nun ist jeder Zusammenhang zwischen revolutionären Umtrieben und der Hamburger CDU grundsätzlich abwegig. Und doch: Bei den in dieser Woche abgeschlossenen Verhandlungen über die Verlängerung des Schulfriedens hat die CDU eine bemerkenswerte Kehrtwende hingelegt, die mindestens eine gewisse Radikalität und erstaunliche Konsequenz erkennen lässt.
Der Kurswechsel zeigt sich auch bei den handelnden Personen, wenngleich selbstverständlich ohne die unangenehmen Begleiterscheinungen der Französischen Revolution: Zu Beginn und während der Gespräche mit SPD, Grünen und der FDP war CDU-Bürgerschaftsfraktionschef André Trepoll auf Unionsseite federführend.
Doch als die vier Fraktionen und Schulsenator Ties Rabe (SPD) das Ergebnis der Schulfriedens-Verhandlungen am Dienstag dieser Woche im Bürgersaal des Rathauses präsentierten, saß ein anderer Christdemokrat neben den Fraktionsvorsitzenden Dirk Kienscherf (SPD), Anjes Tjarks (Grüne) und Anna von Treuenfels-Frowein (FDP): Marcus Weinberg, designierter Unions-Spitzenkandidat für die Bürgerschaftswahl am 23. Februar 2020 und Altonaer Bundestagsabgeordneter.
Ersten Schulfrieden schlossen CDU, Grüne und SPD 2010
Rückblende: Es war Trepoll, der zur Überraschung vieler Ende 2017 im Abendblatt-Interview erklärte, er sei zu Gesprächen über eine Verlängerung des im März 2020 auslaufenden Schulfriedens bereit. „Meine Hand für Verhandlungen über eine gemeinsame Lösung ist ausgestreckt“, sagte der Oppositionschef in Richtung des Ersten Bürgermeisters, der damals Olaf Scholz (SPD) hieß.
Der Schulfrieden war 2010 zwischen den Senatsparteien von CDU und Grünen sowie der oppositionellen SPD ausgehandelt worden. Auf der einen Seite wurden erhebliche Verbesserungen für die Schulen wie kleinere Klassen beschlossen, auf der anderen Seite wurde vereinbart, die Schulstruktur aus Grund-, Stadtteilschule und Gymnasium bis 2020 nicht anzutasten.
Die Manöver des CDU-Fraktionschefs
Doch zunächst geschah nichts auf Trepolls Vorstoß außer einer freundlichen Kenntnisnahme durch Rot-Grün. „Wir sollten den Schulfrieden nicht auslaufen lassen, denn er hat sich bewährt“, sagte der neue Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) immerhin in seiner Regierungserklärung am 11. April 2018. Nun gut, richtig enthusiastisch war auch das nicht. Kurz darauf bekannten sich die Grünen als erste Partei per Landesausschuss-Beschluss zu einer Fortsetzung des „Schulstrukturfriedens“ – allerdings nur um fünf Jahre.
Richtig Fahrt nahm das Thema erst auf, nachdem Trepoll ein zweites Manöver gestartet hatte. Der Fraktionschef fand Gefallen an einer Rückkehr der Gymnasien zu dem um ein Jahr längeren Weg zum Abitur (G9), der derzeit allein an den Stadtteilschulen offensteht. In Schleswig-Holstein hatte die CDU nicht zuletzt mit diesem Thema den Landtagswahlkampf gewonnen. Auch wenn Trepoll in der Sache vom längeren Lernen am Gymnasium überzeugt ist – schließlich wird auch in Hamburg gewählt und vielleicht ließe sich mit G9 ein Wahlkampfschlager für die an Elbe und Alster darbende CDU zimmern.
Richtiger Riecher
Und Trepoll schien den richtigen Riecher gehabt zu haben. Anfang Januar 2019 sprachen sich 76 Prozent in einer Abendblatt-Meinungsumfrage für G9 am Gymnasium aus. In einer Bürgerschaftsdebatte kurz danach hielt er während seiner Rede einen Zettel mit der Botschaft „76 Prozent“ hoch. Und die Botschaft kam an, denn jetzt kam Bewegung in die Sache. SPD und Grüne wollten unbedingt vermeiden, dass die CDU mit dem vermeintlich populären Thema in den Wahlkampf zieht. Rot-Grün hält G9 am Gymnasium inhaltlich für den falschen Weg, weil es die Stadtteilschulen schwächen würde.
Christdemokraten und Liberale wunderten sich in den Gesprächsrunden dennoch über die Bereitschaft von Rot-Grün, ihren Forderungen sehr weit entgegenzukommen. Wer das Ergebnis der Verhandlungen betrachtet, findet eine Reihe jahrelanger Forderungen von CDU und FDP – zur intensiveren Bekämpfung des Unterrichtsausfalls, zur Überarbeitung der Bildungspläne oder zur Wiedereinführung des Sitzenbleibens.
Der Auftritt der Teppichflüsterer
Aber Trepoll hatte das Problem, dass seine Position zu G9 in der eigenen Partei umstritten ist. Nur mit Mühe konnte der Fraktionschef auf dem Landesparteitag seinen Antrag durchsetzen, wenigstens über G9 parteiintern zu diskutieren und ergebnisoffen zu entscheiden. Dabei spielte auch der Landesfachausschuss Bildung der CDU eine Rolle, dessen Mitglieder vor einer Rückkehr zu G8 warnten. Zugleich unterstützten die Bildungsexperten um den früheren Staatsrat in der Schulbehörde, Reinhard Behrens, mit ihrem Wissen Trepoll und die CDU-Schulpolitikerin Birgit Stöver in den Verhandlungen. Intern wurden die Fachleute mit den Teppichflüsterern verglichen, die im Mittelalter Königen hinter einem Wandteppich verborgen die richtigen Argumente zuflüsterten ...
Die Wende im internen Ringen um G9 am Gymnasium kam, nachdem Marcus Weinberg designierter CDU-Spitzenkandidat war. Der Gymnasiallehrer ist ein Anhänger des Zwei-Säulen-Modells aus Gymnasium (G8) und Stadtteilschule (G9). Seine „Beinfreiheit“ als Spitzenkandidat, so Weinberg kurz nach seiner Nominierung, müsse „gelegentlich bis zum Hals gehen“. Der Schulfrieden ist nun der erste Anwendungsfall. Jetzt soll es laut Schulfriedens-Vereinbarung bei G8 am Gymnasium bleiben.
Machtperspektive für die CDU
Dabei geht es Weinberg nicht nur um die Sache selbst, sondern auch um die strategische Ausrichtung der Partei im Wahlkampf. Der Bundestagsabgeordnete will der Union eine Machtperspektive eröffnen, und das geht angesichts von Wahlergebnissen und Umfragen von deutlich unter 20 Prozent nur, indem sich die CDU als anschlussfähig erweist. Dazu gehören auch Kompromisse mit den Regierenden. Auch die oppositionelle SPD hatte sich 2010 nicht gescheut, einen „Deal“ mit Schwarz-Grün einzugehen und damit auf Schule als Wahlkampfthema weitgehend zu verzichten.
„Regierungsfähigkeit beweist man nicht, indem man immer Gegenspieler ist“, könnte Weinbergs Credo lauten. Trepoll setzte jedenfalls lange Zeit darauf, dass sich die Union mit dem Alleinstellungsmerkmal G9 profiliert. Nur bleibt die Frage, mit wem die CDU die Strukturreform später eigentlich durchsetzen wollte. Trepoll denkt an die Zukunft. „Viele wünschen sich mehr Zeit zum Lernen auf dem Gymnasium. Ich glaube, dass der Druck auf die Parteien weiter wachsen wird. Und fünf Jahre sind schneller vorüber, als man manchmal denkt“, sagt der CDU-Fraktionschef.
Zukunft von Weinberg steht auf dem Spiel
Als die Bürgerschaft am Mittwoch den neuen Schulfrieden mit der Festlegung auf G8 am Gymnasium debattierte, fehlte Trepoll. Sein Sohn war an dem Tag in die Vorschule gekommen. Man darf Trepoll zutrauen, dass er eine andere überzeugende Begründung gefunden hätte, der Debatte fernzubleiben, wenn es die Einschulung nicht gegeben hätte.
Am Montag hat die CDU-Basis das Wort. Sollte sie sich gegen die Vereinbarung mit SPD, Grünen und FDP und für G9 am Gymnasium aussprechen, könnte Weinberg seinen Hut als Spitzenkandidat nehmen. Es gilt als sehr unwahrscheinlich, dass das passieren wird.