Hamburg. Hamburgs SPD-Landeschefin Melanie Leonhard warnt vor langer Personaldebatte – und fordert die inhaltliche Neuausrichtung der Partei.

Der doppelte Rücktritt von Andrea Nahles als SPD-Vorsitzende und Chefin der SPD-Bundestagsfraktion trifft die Hamburger Sozialdemokraten zu einem denkbar ungünstigen Augenblick: Die schwere Niederlage bei den Europa- und Bezirkswahlen vor einer Woche war nicht zuletzt vom sehr negativen Bundestrend beeinflusst. Umso mehr bemüht sich die hiesige SPD mit Blick auf die Bürgerschaftswahl am 23. Februar 2020, sich ganz auf Hamburger Themen zu konzentrieren und störende Bundeseinflüsse auszublenden. Mit der schweren Führungskrise der Bundes-SPD und einem möglichen Bruch der Großen Koalition mit der Folge von Neuwahlen droht nun das Gegenteil.

Die SPD-Landesvorsitzende Melanie Leonhard zeigte im Gespräch mit dem Abendblatt Verständnis für Nahles’ Entscheidung. „Andrea Nahles hat in einer schwierigen Zeit Verantwortung übernommen, aber zuletzt den Rückhalt der Partei nicht gehabt. Einige in der SPD haben eine Personaldebatte angestoßen, ohne offensichtlich eine Alternative zu haben. Da ist es konsequent, dass sie ihre Ämter zur Verfügung stellt“, so Leonhard. Die Alternative wäre eine „monatelange Personaldebatte gewesen, die die Lage der SPD vermutlich nicht verbessert hätte“.

Leonhard fordert eine zügige Neubesetzung der Führungsposten

Die Sozialdemokratin kritisierte in diesem Zusammenhang SPD-Landesverbände, die ihre Machtinteressen über das Wohl der Gesamtpartei gestellt hätten. Konkreter wird Leonhard nicht, allerdings war zuletzt Kritik an Nahles vor allem aus der nordrhein-westfälischen SPD gekommen. „Es wäre klug, wenn sich jetzt alle Beteiligten fünf Tage Zeit nähmen, um einmal durchzuatmen. Die Frage, wer an die Spitze von Partei und Fraktion kommt, sollte mit einer inhaltlichen Neuausrichtung einhergehen. Dafür hat es bereits gute Ansätze gegeben“, sagte die Sozialsenatorin.

Leonhard fordert eine zügige Neubesetzung der Führungsposten. „Was wir als Partei nicht brauchen, ist eine monatelange Selbstbeschäftigung über Personalfragen. Für die große Herausforderung wird der Nachfolger oder die Nachfolgerin die Unterstützung der gesamten Partei benötigen, sonst klappt es nicht“, sagte Leonhard. Nach Meinung der SPD-Chefin sollte die Frage nach dem Verbleib der SPD in der Großen Koalition von der jetzigen Personaldebatte getrennt und erst im Herbst auf dem Bundesparteitag entschieden werden.

Tschentscher: „Die Nachfolge möglichst bald entscheiden“

Der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) fordert nach dem Doppel-Rücktritt von Andrea Nahles, dass die Personalentscheidungen „in einem geordneten Verfahren, im Ergebnis möglichst einvernehmlich und bald getroffen werden“. Tschentscher dankte Nahles für die geleistete Arbeit. „Andrea Nahles hat sich nach ihrer Wahl zur Partei- und Fraktionsvorsitzenden mit aller Kraft für die Neuausrichtung der SPD und einen guten Kurs der Großen Koalition eingesetzt. Dafür gebührt ihr Dank und Anerkennung“, sagte Tschentscher. „Nach dem schlechten Abschneiden bei der Europawahl muss die SPD in einer schwierigen Lage wieder Tritt fassen. Im Vordergrund steht jetzt die Neubesetzung der beiden zentralen Positionen im Partei- und Fraktionsvorstand“, sagte der Sozialdemokrat.

„Ich bin erschüttert und fassungslos“, sagte SPD-Bürgerschaftsfraktionschef Dirk Kienscherf. Angesichts der Entwicklung der vergangenen Tage sei Nahles’ Schritt letztlich absehbar gewesen. „Ihre öffentlichen Auftritte sind nicht immer optimal gewesen, aber sie war inhaltlich sehr stark und hat in der Großen Koalition eine Menge herausgeholt“, sagte Kienscherf.

Finanzsenator Dressel ist überrascht von Nahles' Rücktrittsankündigung

Wer immer Nahles ablöse, habe eine „total schwierige Lage“ mit drei Landtagswahlen im Osten Deutschlands vor sich. Auch deswegen dürfe es „keine wochenlange Hängepartie“ geben. „Eine schnelle Klärung wäre auch mit Blick auf die Bürgerschaftswahl wichtig“, sagte Kienscherf, der sich skeptisch zeigte, ob die SPD in der Großen Koalition bleiben solle: „Das muss man sehr kritisch betrachten.“ Eins ist für den SPD-Fraktionschef klar: „Je instabiler die Partei ist, desto mehr werden wir davon in Hamburg abbekommen.“

Finanzsenator Andreas Dressel, Vorsitzender des größten SPD-Kreisverbandes Wandsbek, zeigte sich überrascht von Nahles’ Rücktrittsankündigung. „Das hätte ich so jetzt nicht erwartet. Es ist ein Stück weit tragisch, denn Andrea Nahles hat sich sehr aufgeopfert in der Doppelfunktion und inhaltlich viel erreicht“, sagte Dressel. „Das haben viele bei uns ihr nicht angerechnet. Andererseits ist auch wahr, dass die Akzeptanz von Andrea Nahles bei den Wahlbürgern und Wahlbürgerinnen sehr überschaubar war.“ Er sei an den Infoständen während der Europa- und Bezirkswahlen immer wieder darauf angesprochen worden. „Es war schwierig, Andrea Nahles nach außen zu verteidigen“, so Dressel.

Abschied von Heckenschützen- und Hinterzimmermanier notwendig

„Das alles hat Andrea Nahles zermürbt. Es ist eine bittere Erkenntnis, dass sie die Herzen auch vieler in der Partei wohl nicht mehr erreicht hätte“, sagte Dressel, der Respekt vor Nahles’ Entscheidung bekundete. „Aber es ist schlimm, wie der Rücktritt zustande gekommen ist. Wir sind die Partei, die stets die Solidarität betont. Einige von uns haben die Solidarität mit Füßen getreten“, sagte der Sozialdemokrat, der Zweifel hat, dass sich die Heckenschützen-Mentalität sofort bessern werde. Trotz aller Schwierigkeiten spricht sich Dressel eher für die Fortsetzung der Großen Koalition aus. „In dieser Lage wären Neuwahlen, die ja zwangsläufige Folge eines Bruchs der Koalition wären, für uns geradezu selbstmörderisch. Die Frage ist, ob das der Partei als Grund ausreicht weiterzuregieren“, so der Senator.

„Wenn es etwas gibt, wovon wir uns dringend verabschieden müssen, dann ist es die Heckenschützen- und Hinterzimmermanier, eine Führungsperson wie Andra Nahles zum Sündenbock zu machen“, sagte der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete und langjährige Ver.di-Vorsitzende Wolfgang Rose. Die Große Koalition solle nur fortgesetzt werden, wenn sie „von einer großen Mehrheit getragen“ werde. Derzeit liegen die Chancen Roses Einschätzung nach aber bei weniger als 50 Prozent.