Hamburg. Baustellen, Stau, Frust: Rettung auf der Straße gibt es laut Verkehrsforscherin Philine Gaffron mit weniger Autos und besserem Nahverkehr.

Die Verkehrspolitik der Stadt will alles, und zwar auf einmal: Der Radverkehrsanteil soll auf 25 Prozent steigen, Klima- und Gesundheitsziele müssen erreicht werden, der Nahverkehr braucht neue Strecken, und der für die Wirtschaft wichtige Autoverkehr soll darunter nicht leiden. Funktioniert das? Verkehrsforscherin Philine Gaffron von der Technischen Universität Hamburg sagt: nein. Sie meint, es fehlt Gestaltungswillen und Innovationsmut.

Frau Gaffron, Autofahrer meckern, Radfahrer sind genervt, Busse und Bahnen sind voll, und im ADAC-Verkehrsklimatest liegt Hamburg weit hinten: Ist es wirklich so schlimm?

Philine Gaffron Das kommt auf die Perspektive an. Wenn Busse und Bahnen voll sind, werden sie genutzt. Das ist prima. Ich habe mich gerade mit einer Studentin aus Lyon unterhalten, die wissen wollte, wie es kommt, dass hier so viele Menschen Rad fahren. In Lyon beträgt der Anteil des Radverkehrs drei Prozent. Hier sind es immerhin 15. Aus Lyon betrachtet: traumhaft.

Okay, aber schlimmer geht ja auch immer.

Gaffron: Wie gesagt: alles relativ. In München fahren 18 Prozent Rad, und in Amsterdam würde man selbst darüber lächeln. Ein Grundsatzproblem ist, dass Hamburg sich lange eine kurzsichtige Verkehrsplanung geleistet hat. Das müssen wir aufholen. Manche Städte haben längst Verkehrsentwicklungspläne, die Ziele und Maßnahmen für 15 Jahre definieren. Solche Pläne müssen Klima, Umwelt und Soziales berücksichtigen – wie in Manchester oder Stockholm. Hamburg arbeitet erst an einem Plan.

Was sind die drei größten Probleme, pardon, Herausforderungen im Stadtverkehr?

Gaffron: Hamburg braucht ein weitsichtiges Parkraummanagement­ und als Regelgeschwindigkeit Tempo 30. Außerdem sollte die Option „Stadtbahn“ fachlich fundiert untersucht werden. Das kann man in Fachkreisen gar nicht vermitteln, dass Hamburg da einfach Nein gesagt hat.

Wieso nicht?

Gaffron: Ich halte es nach wie vor für einen Fehler, aus politischen statt aus fachlichen Gründen auf eine Straßenbahn zu verzichten. Das war kurzsichtig. Aber die erste öffentliche Resonanz war abweisend, also hat man das Projekt begraben.

Wie wäre es besser gegangen?

Gaffron: Nizza etwa hat den Neubau von Stadtbahnstrecken mit einer Kampagne begleitet. Die haben gesagt, es wird jetzt drei Jahre hart beim Bau, aber danach kommen wir besser voran und haben mehr qualitätsvolle Stadträume. Das zeigt, wenn ein Projekt gut kommuniziert wird, entscheidet das mit über den Erfolg. Und wenn Hamburg eine aktive, nachhaltige, moderne und gesunde Stadtgesellschaft will, muss man auch Politik mit diesem Anspruch machen.

Das sprechen Sie der Politik ab?

Gaffron: Eine ergebnisoffene Prüfung der Stadtbahn wäre das Mindeste gewesen. Aber Hamburg hatte auch kein Nachfragemodell, mit dem man die Wirkung solcher Maßnahmen simulieren kann. Das ist nun in der Entwicklung. Heute wird zwar gesagt: Wir haben uns auf den S- und U-Bahn-Bau festgelegt. Nur, das dauert länger, ist teurer, und die Vorstellung, dass man vom U-Bahn-Bau nichts mitbekommt, weil alles unterirdisch passiert, ist absurd. Außerdem kann man das eine tun, ohne das andere zu lassen. Eine Stadtbahn hat eine höhere Kapazität als Busse und wird auch als sicherer und komfortabler empfunden.

Punkt zwei: Was ist am Parkraummanagement in Hamburg falsch?

Gaffron: Über den Parkraum steuert man die Nachfrage im motorisierten Individualverkehr. Wie viele Parkplätze gibt es? Wie viel kosten die? Wer darf sie nutzen? Es gibt Städte, die dieses Instrument konsequent nutzen, denken wir an Amsterdam oder London. Wenige teure Parkplätze in der Innenstadt sind in vielen Städten üblich. In Hamburg wäre es sinnvoll, dieses Instrument anzuwenden.

Das reicht schon?

Gaffron: Nein. Dazu gehört auch, den Nahverkehr weiter auszubauen und Tarife sozial gerecht und einfach zu gestalten. Wenn man mit Bus und Bahn günstiger und schneller von A nach B kommt als mit dem Auto, fällt der Umstieg leichter.

Und jetzt noch Tempo 30: Warum das?

Gaffron: Es ist leiser, verursacht weniger Schadstoffe, alle fühlen sich sicherer – und sind es. Tempo 30 bedeutet auch keine Verlangsamung des Autos, schneller kommt man heute auch nicht durch die Stadt.

Das klingt trotzdem autounfreundlich.

Gaffron: Autos sind Maschinen, Städte sollen für Menschen geplant werden. Und Autos sind nun mal das stadt- und daher menschenunfreundlichste Verkehrsmittel. Das sieht nur der eine Mensch anders, der drin sitzt. Und meistens ist es nur einer. Schon alle anderen Autofahrenden finden den störend. Denn sein Auto braucht Platz, den sie selbst nicht haben.

Dennoch ist der Verzicht aufs Auto ein Einschnitt in Mobilität und persönliche Freiheit.

Gaffron: Mehr als 30 Prozent der Haushalte haben kein Auto. Zudem ist die Hälfte aller Fahrten mit dem Auto kürzer als fünf Kilometer. Es geht schon jetzt anders schneller. Aber auch die, die mit dem Auto pendeln, würden das lieber stress- und staufrei tun. Nur: Wir können Staus nicht wegbauen. Denn es gilt: Wer Infrastruktur säht, wird Verkehr ernten.

Welchen Verkehr sollte Hamburg ernten?

Gaffron: Man muss von den Zielen her denken. Wir möchten eine lebenswerte Stadt, wir wollen Klimaschutzziele erreichen, wir möchten nicht, dass Menschen wegen Lärm und Luftverschmutzung früher sterben, wir wollen Tote und Verletzte vermeiden. Das erreichen wir nur, wenn wir Autoverkehr reduzieren.

Sie sagen, dafür fehlt der politische Mut?

Gaffron: Auch. Und vielleicht auch die Überzeugung, dass es wirklich nötig ist. Aber wenn man sich über diese Ziele einig ist, muss man auch konsequent darauf hinarbeiten. Und dabei kann man es nicht allen recht machen. Eine Stadt funktioniert nie ohne Kompromisse. Also braucht Politik stärkeren Gestaltungswillen für eine zukunftsgerechte Stadt.

Kann Hamburg da von anderen lernen?

Gaffron: Natürlich kann und sollte man von anderen lernen. Aber wäre es nicht auch spannend, wenn Hamburg mal mit all seiner Wirtschaftskraft, seinem Innovationsanspruch und seinen vielfältigen Bewohnern vorangeht, um anderen zu zeigen, wie man Verkehr zukunftsgerecht gestaltet? Das wäre eine Botschaft.

Welche Stadt macht es wirklich gut?

Gaffron: In keiner Stadt ist alles prima. Aber es gibt interessante Beispiele. Madrid und Paris verhängen bis 2025 Dieselverbote für die Citys, und London testet den Ausschluss von Verbrennungsmotoren.

Wie sieht die Stadtstraße der Zukunft aus?

Gaffron: Das ist funktionsabhängig. Auf einer Hauptverkehrsstraße etwa bliebe für den Autoverkehr eine, maximal zwei Fahrspuren pro Richtung. Im Querschnitt wären auf beiden Seiten je 30 Prozent für Fußwege, Grün und Radspuren, und in der Mitte gibt es auf 40 Prozent Fahrbahnen für Autos und Spuren für den ÖPNV.

Wie soll das auf der Willy-Brandt-Straße gehen?

Gaffron: Bei solchen Straßen wäre eine Phasenlösung denkbar. Das heißt, dass man das Fahrspurangebot langsam verringert. Man sieht an Beispielen wie der Vollsperrung der Kreuzung Holstenstraße/Max-Brauer-Allee: wenn sich Gegebenheiten ändern, passen Menschen sich auch an.

Braucht Hamburg nicht auch einen Autobahnring, um die City zu entlasten?

Gaffron: Nein. Schauen Sie sich London oder München an: Da ist ständig Stau auf den Ringen. Großflächiger Autobahnbau ist keine zukunftsfähige Strategie. Den Güterverkehr müssen wir anders in den Griff kriegen. Da geht es um nationale Entscheidungen im Fernverkehr. Andererseits spielen individuelle Entscheidungen eine Rolle.

Wieso entscheidet jeder Einzelne?

Gaffron: Jeder will gesund leben und zügig vorankommen – aber auch seine Amazon-Bestellung, die günstigen Schuhe von Zalando oder die frische Bioavocado aus Israel jederzeit bekommen. Diese Ebene ist wichtig für eine Mobilitätswende. Wer saubere Stadtluft und weniger Autoverkehr möchte, muss auch so leben. Verkehrsplanung ist zu komplex für nur eine Stellschraube, und alles wird besser. Schön wäre auch, wenn es hier einen politischen Verkehrsfrieden gäbe. Ein Thema, das unsere Zukunft so maßgeblich beeinflusst, sollte jedenfalls nicht politisch instrumentalisiert werden.