Hamburg. Nach dem überraschenden Verzicht von Milan Pein ist Dirk Kienscherf einziger Kandidat für den Fraktionsvorsitz.

Es war eine auf den ersten Blick unscheinbare E-Mail, die am Freitagnachmittag um 15.29 Uhr in den elektronischen Briefkästen der SPD-Bürgerschaftsabgeordneten landete, aber sie hatte es in sich. „Ich werde am Montag nicht für den Fraktionsvorsitz kandidieren. In der jetzigen Situation wäre die zu erwartende knappe Entscheidung für einen der Kandidierenden eine schwere Hypothek“, teilte der Eimsbütteler SPD-Kreischef Milan Pein seinen „lieben Genossinnen und Genossen“ mit. Manch einem wird da ein Stein vom Herzen gefallen sein.

Peins Rückzug macht den Weg an die Fraktionsspitze für den parlamentarischen Geschäftsführer Dirk Kienscherf frei. Über Tage, ja Wochen hatte es so ausgesehen, als ob am Montagabend im Raum 151 des Rathauses eine Szene aus dem Western-Klassiker „High Noon“ nachgestellt werden würde. Während Kienscherf und Pein insgesamt gelassen blieben und sich zurückhielten, verhakten sich die Unterstützer beider Kandidaten immer stärker. Noch am Mittwoch war eine zweistündige Beratung des Fraktionsvorstandes ohne Einigung zu Ende gegangen. Es sah zunehmend so aus, als ob die internen Grabenkämpfe, die der Partei in den Jahren der Opposition heftig zugesetzt hatten, wieder aufflammen würden.

Nach Olaf Scholz’ Weggang entstand ein Machtvakuum

Weil es nicht um einen inhaltlichen Konflikt, nicht um eine unterschied­liche Ausrichtung der Fraktion in der rot-grünen Koalition ging, drängte sich immer mehr die Frage auf: Warum schafft die SPD es nicht mehr, eine zugegeben wichtige Personalie im Konsens zu lösen? Eben noch hatte ein gewisser Olaf Scholz nach dem Motto „Wer Führung bestellt, bekommt sie auch“ Partei und Stadt regiert. Nun war die Führung weg, und schon herrschte offensichtlich ein Machtvakuum.

Bereits bei der Kür von Peter Tschentscher zum Ersten Bürgermeister hatte es
vernehmlich geruckelt und geknirscht im SPD-Gebälk, auch wenn Tschentscher letztlich mit einem überzeugenden Ergebnis auf dem SPD-Parteitag nominiert wurde. Bei der Wahl Tschentschers in der Bürgerschaft fehlten dann mindestens drei Stimmen aus dem Koalitionslager, mutmaßlich aus den Reihen der Sozialdemokraten, was erneut für kräftigen Missmut sorgte.

Die Fallhöhe ist große für die Sozialdemokraten

Die Fallhöhe war und ist also groß für die regierenden Sozialdemokraten, das erklärt vielleicht auch das gewisse Pathos in Peins Rückzugserklärung. „Die Fraktion und die Partei brauchen jetzt nichts dringender als Geschlossenheit, wie wir es bei der Wahl von Peter Tschentscher und Melanie Leonhard (zur Parteivorsitzenden, die Red.) gezeigt haben. Dazu will ich meinen Beitrag leisten“, schrieb der Rechtsanwalt. So viel Selbstlosigkeit sorgt in der Politik für Lob. Kienscherf zollte seinem Eben-noch-Konkurrenten „großen Respekt“. Und auch Mathias Petersen, Vorsitzender der SPD Altona und unabhängiger Kopf der Fraktion, sagte: „Ich freue mich darüber, dass wir eine einvernehmliche Lösung haben und danke allen Beteiligten.“

Was gab aber den Ausschlag für die abrupte Kehrtwende? Die Erkenntnis, dass da zwei Züge aufeinander zurollten und das Ergebnis einer Kampfkandidatur knapp ausfallen würde und für dauerhaften Zwist sorgen könnte, ist ja nun wahrlich nicht neu.

Einmal hilft es ja immer, die Schar der eigenen Getreuen zu zählen. Beide Seiten hatten vorher gesagt, sie sähen ihren Mann leicht im Vorteil. Nur eine von beiden Ansichten kann aber stimmen. Das mag ein Grund gewesen sein. Zweitens hätte die Wahl von Pein zum Fraktionschef neue Probleme verursacht. Nach dem Wechsel von Fraktionschef Andreas Dressel an die Spitze der Finanzbehörde drängt die Wandsbeker SPD, der größte Hamburger Kreisverband, auf Ersatz für den Wandsbeker Dressel an der Fraktionsspitze. Mit Pein als Fraktionschef wäre Kienscherf parlamentarischer Geschäftsführer geblieben. Dieser Posten wird nun frei, zumal Pein erklärt hat, für kein Spitzenamt in der Fraktion zur Verfügung zu stehen. Nach Lage der Dinge könnten nun die Wandsbeker Ole Thorben Buschhüter oder Juliane Timmermann Nachfolger von Kienscherf werden.

Parteichefin Leonhard drängte auf eine Einigung

Drittens ist die aktuelle Entwicklung auch ein Stück Selbstbehauptung der Fraktion gegenüber der kleinen Gruppe führender Sozialdemokraten um Olaf Scholz, die sich für Pein als künftigen Fraktionschef ausgesprochen hatten, als die Personalien Tschentscher, Leonhard und Dressel verabredet wurden – einerseits. Aber: Der lauteste Protest kam damals von SPD-Mitte-Chef und Bundestagsabgeordneten
Johannes Kahrs, der sich nun mit Mitte-Mann Kienscherf indirekt durchgesetzt hat. Dass Kahrs bei Teilen der SPD-Fraktion gerade wegen seiner etwas hemdsärmeligen Personalpolitik nicht sehr beliebt ist, könnte zu einer Hypothek für Kienscherf werden.

Dass Milan Pein auf den letzten Metern eingelenkt und der Fraktion möglicherweise dauerhafte Friktionen erspart hat, ist auch auf das Engagement von Parteichefin Leonhard zurückzuführen. Die in der SPD beliebte Sozialsenatorin hatte sich bis zuletzt intern für eine Konsenslösung eingesetzt und sieht ihr Bemühen nun von Erfolg gekrönt.

Kienscherf hält sich zunächst mit Äußerungen zurück und will erst einmal die Wahl am Montag abwarten. Man weiß ja nie. Und bei der SPD schon gar nicht.