Auf dass alle Welt geschätzt werde: Hamburg bemängelt viele formelle Fehler bei der Volkszählung und droht mit einer Klage gegen das Ergebnis des Zensus. Denn Hamburg soll weniger Einwohner haben.
Die Weihnachtsgeschichte beginnt bekanntlich mit dem fernen römischen Kaiser Augustus. Um zu bekommen, was er für seinen gerechten Anteil hielt, ordnete er an, dass alle Welt sich schätzen (sprich: zählen und in die Steuerlisten eintragen) ließe. Das wichtigste Ergebnis ist bekannt: Scheune, Krippe und der Heiland, der ein paar Jahrzehnte später verkündete, man solle dem Kaiser geben, was des Kaisers sei. Geschätzt wurde auch beim jüngsten Zensus in Hamburg.
Allerdings nicht alle Welt, sondern nur ein Bruchteil. Und am Ende der Geschichte stand auch keine gute, welterhellende Nachricht. Im Gegenteil. Denn nach der Erhebung, die das Statistikamt Nord 2011 mithilfe von Stichproben durchführte, hat Hamburg 83.000 Einwohner weniger als angenommen.
Zum Stichtag 9. Mai 2011 lebten demnach nur 1.707.000 Einwohner in der Hansestadt. Bis dahin galt die offizielle Zahl von 1.790.000 Hamburgern. Die Differenz von 4,6 Prozent hatte bereits drastische Folgen für die Stadt – vor allem beim Länderfinanzausgleich. Satte 75 Millionen Euro musste Hamburg wegen der geschrumpften Zahl der Hanseaten nachzahlen.
Schon im Sommer 2013 legte der SPD-Senat von Bürgermeister Olaf Scholz Widerspruch gegen das Ergebnis ein, um die Frist zu wahren. Die Begründung reichte die zuständige Behörde von Innensenator Michael Neumann(SPD) nun kürzlich nach. In dem 20 Seiten umfassenden Papier, das dem Abendblatt vorliegt, verweist der Senat auf aus seiner Sicht gravierende Mängel bei den Grundlagen und den Methoden der Erhebung – und er führt aus, dass die Zählung obendrein verfassungswidrig gewesen sei. „Das Zensusgesetz 2011, das die materielle Basis der Feststellung nach § 1 des Hamburgischen Gesetzes zur Ausführung des Zensusgesetzes 2011 schafft, genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen“, heißt es in der Widerspruchsbegründung.
So verstoße es gegen das „Bundesstaatsprinzip, da es den Ländern – auch den Statistischen Ämtern der Länder – den Einblick in wesentliche Verfahrensschritte verwehrt und damit eine Überprüfung des rechtmäßigen und ordnungsgemäßen Zustandekommens des Ergebnisses verhindert“. Außerdem widerspreche es dem „Gleichheitsgrundsatz, dass für die Ermittlung der amtlichen Einwohnerzahl für große und kleine Gemeinden jeweils unterschiedliche Verfahren angeordnet wurden und dabei in Kauf genommen wurde, dass das Verfahren für große Gemeinden zu einer verfahrensbedingt stärkeren Korrektur der Melderegisterangaben führte“.
Hierdurch würden Länder mit einem überwiegenden Anteil großer Gemeinden benachteiligt und Länder mit einem überwiegenden Anteil kleiner Gemeinden verfahrensbedingt bevorzugt. Tatsächlich mussten nach dem Ergebnis des Zensus vor allem viele große Städte ihre Einwohnerzahlen deutlich nach unten korrigieren.
Neben dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit kritisiert der Senat auch formelle Mängel – und äußert zudem massive Bedenken gegen die Methoden, mit der die Zahlen erhoben worden sind. „Zudem weist das Verfahren der Ermittlung der amtlichen Einwohnerzahl durch das Statistische Bundesamt aber auch erhebliche Mängel in der praktischen Durchführung auf, die zu einer materiellen Rechtswidrigkeit der vorgenommenen Festsetzung führen“, heißt es da in feinstem Juristendeutsch. Kritisiert wird etwa, dass es bei der „Erstellung des Anschriften- und Gebäuderegisters (AGR)“ bundesweit zu zahlreichen Fehlern gekommen sei.
Das sei gravierend, weil dieses Register die Grundlage für die Festlegung der Stichproben geliefert habe. Denn anders als bei echten Volkszählungen wurden beim Zensus 2011 nur etwa zehn Prozent der Bürger befragt. Hinzu kämen zahlreiche weitere konkrete Fehler. So seien etwa Wohnungen, die bis August 2010 in Hamburg fertiggestellt worden seien, gar nicht mehr in die Erhebung eingegangen.
Zweifel äußert Hamburg in dem Schreiben an das Statistische Amt für Hamburg und Schleswig auch an der Befragung der für die Stichprobe ermittelten Haushalte. „Von diesem Arbeitsschritt des Zensus hing wesentlich das ermittelte Ergebnis ab, da durch die Haushaltebefragung die Grundlagen für die Schätzung der amtlichen Einwohnerzahlen ermittelt wurden“, heißt es in dem Schreiben der Innenbehörde. „Mangels Einblicks in die Verfahrensunterlagen ist es allerdings der Widerspruchsführerin nicht möglich, sich davon zu überzeugen, dass das Verfahren ordnungsgemäß abgewickelt wurde.“
Voraussichtlich werde man über den Widerspruch im ersten Quartal 2015 entscheiden, sagte Helmut Eppmann, Chef des Statistikamts Nord. Die Chancen auf einen positiven Bescheid hält man im Rathaus aber ohnedies für gering. Wahrscheinlicher ist es, dass die Angelegenheit vor Gericht entschieden wird, vermutlich vor dem Bundesverfassungsgericht. Berlin, das laut Zensus sogar 180.000 Einwohner weniger haben soll als angenommen, hat sich gerade entschlossen, diesen Weg zu beschreiten. „Mit der unmittelbaren Anrufung des Bundesverfassungsgerichts möchte das Land Berlin auch vor allem für die zukünftige Durchführung des Zensus Rechtsklarheit gewinnen“, teilte der Berliner Senat in der vergangenen Woche mit. „So können eine erhebliche Verbesserung der Qualität des nächsten Zensus im Jahr 2021 erreicht sowie die künftigen Ergebnisse für alle Städte und Gemeinden in Deutschland transparenter und nachvollziehbarer gemacht werden.“
Sollte das Statistikamt den Widerspruch wie erwartet ablehnen, wird wohl auch Hamburg vor Gericht ziehen. „Hamburg hat gegen den Zensus Widerspruch eingelegt. Die Begründung des Widerspruchs liegt dem Statistikamt Nord vor“, sagte Senatssprecher Christoph Holstein. „Der Senat behält sich weiterhin die Möglichkeit vor, vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen.“