Fünf Jahre nach der Besetzung des Gängeviertels: Konflikte und Kompromisse im Kampf um das historische Häuser-Ensemble. Doch: Die erzielten Fortschritte rechtfertigen den großen Aufwand.

Neustadt. In dem alten Haus wird in allen fünf Stockwerken gebohrt, gesägt und gehämmert. Manche Holzfußböden haben noch riesige Löcher. Wände und Decken sind von hässlichem, schwarzem Schwamm befallen. Tapeten hängen in großen Fetzen herunter. Leitungen baumeln nutzlos herum. In einigen Räumen sind bereits neue Deckenbalken zu bewundern. Sie wirken wie Rettungsanker, die in höchster Not ein brüchiges Ensemble vor dem endgültigen Untergang bewahren sollen. Und sie lassen erahnen, dass hier langsam etwas Neues entsteht, um das Alte zu retten: Die Sanierung des Gängeviertels ist in vollem Gange – und für alle Beteiligten eine gewaltige Herausforderung.

Fünf Jahre ist es her, dass im Sommer 2009 rund 200 Menschen diese Reste des Gängeviertels, das sich einst vom Großneumarkt bis zum Gänsemarkt erstreckte, an der Ecke Caffamacherreihe/Valentinskamp besetzten. Der historische Gebäudekomplex, der seit etwa 2002 weitgehend leer stand und zunehmend verfiel, war von der Stadt an Hanzevast Capital verkauft worden. Der niederländische Investor wollte im Jahr 2008 die zwölf Häuser zu 80 Prozent abreißen, ein bisschen alte Fassade stehen lassen und ansonsten auf dem Gelände gläserne Neubauten errichten.

Der Kampf um das Gängeviertel wurde bundesweit verfolgt. Weil es um die großen Fragen ging: Wem gehört die Stadt? In welcher Stadt wollen wir leben? Entscheiden einzig die Kräfte des Marktes über die Zusammensetzung von Bewohnern in den Vierteln? Und wie gehen die Politiker mit der Geschichte ihrer Stadt um?

Als der Senat im Dezember 2009 den Rückkauf des Gängeviertels beschloss und dem Investor die bereits geleisteten Zahlungen von knapp 2,8 Millionen Euro erstattete, war das nicht nur die Reaktion auf eine breite Protestbewegung, die einen hohen öffentlichen Druck zur Folge hatte. Es war auch eine Strategie. Längst hatten andere Städte nämlich die „kreative Klasse“ als passendes Instrument im Wettbewerb der Metropolen entdeckt. Nun wuchs auch im Rathaus die Einsicht, dass im Rahmen der Stadt-Vermarktung ein lebendiges Gängeviertel mit preiswertem Wohnen und kreativem Arbeiten in historischen Gebäuden durchaus ein Standortvorteil sein könnte.

Zum Nulltarif gab’s das nicht. Die kurzfristige Korrektur des jahrelang Versäumten hatte seinen Preis. Für 20 Millionen Euro sollen sämtliche Gebäude instand gesetzt und modernisiert werden. Anschließend unterliegen die 70 Wohnungen über einen Zeitraum von 21 Jahren einer Mietpreis- und Belegungsbindung. Die Nettokaltmiete beträgt 5,80 Euro. In fünf Jahren soll Hamburg dann sein neues altes Gängeviertel bekommen. Ein Vorzeigeobjekt, das vor 120 Jahren noch ein Schandfleck war. Und über das der Berliner Arzt Robert Koch anlässlich der Choleraepidemie 1892 an den Kaiser schrieb: „Eure Hoheit, ich vergesse, dass ich in Europa bin. Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim gefunden wie hier.“

Im sogenannten „Jupi-Haus“ an der Ecke Caffamacherreihe/Speckstraße sind die Handwerker bei der Arbeit. Karin Dürr, Architektin der Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft (Steg), führt durch die Räume und erläutert die einzelnen Maßnahmen. Das Gebäude bleibt im Äußeren weitgehend erhalten. Die Elektroanlangen werden vollständig erneuert. Der Wärmeschutz wird verbessert durch Dämmung der Hoffassaden, der Kellerdecken und überwiegend neue Wärmeschutzfenster. Zur Straße wird die Klinkerfassade mit Schmuckbändern und verzierten Brüstungsfeldern aus Putz wiederhergestellt. Außerdem hat das Denkmalschutzamt Untersuchungen durchgeführt, um die ursprüngliche Farbe wieder aufzutragen. Im Februar 2015 sollen die sechs Wohnungen sowie eine Gewerbeeinheit im Erdgeschoss und die Jupi-Bar wieder bezogen werden. Die Baukosten für diesen Komplex betragen rund 2,1 Millionen Euro.

„Wir sind im Kosten- und im Zeitplan“, sagt Steg-Chef Hans Joachim Rösner. Die Prozesse seien oft mühselig, aber am Ende ständen die Entscheidungen dann auch auf einer breiten Grundlage. „Die größte Herausforderung besteht darin, einen Beteiligungsprozess auf Dauer zu erhalten“, sagt Christine Ebeling aus dem Vorstand des Sanierungsbeirats. Das erfordere von allen Mut und Energie und beinhalte gleichzeitig immer wieder Wut und Enttäuschung bei den vielen Menschen, die sich hier seit Jahren ehrenamtlich engagieren.

Manchmal geht es in den Auseinandersetzungen um bauliche Maßnahmen, aber auch um kurzfristig abgesagte Termine. Dann sprechen die einen von „Ignoranz und Respektlosigkeit“ und kritisieren per Rund-Mail: „Nun ist es mindestens das dritte Mal in den letzten drei Monaten, dass wir in Zusammenhang mit Terminabsagen auf Jobs und Aufträge verzichtet haben und unser Einkommen dadurch weiter geschmälert wird.“ Die Vertreter der Stadt mahnen dann, „den Ball flach zu halten“, verweisen ihrerseits auf abgesagte Termine des Vereins Gängeviertel und merken an: „Verzerrungen der Wirklichkeit und haltlose Anschuldigungen helfen niemandem weiter.“

Dass immer wieder neue Konflikte auftauchen, verwundert nicht wirklich bei der großen Anzahl der Beteiligten. Auf der Seite der Initiative sind das die Genossenschaft mit Vorstand und Aufsichtsrat sowie der Verein Gängeviertel. Auf der Seite der Stadt sind es die Steg, das Bezirksamt Mitte, drei Behörden (Kultur, Umwelt, Finanzen) und das Denkmalschutzamt als Teil der Kulturbehörde.

Es gibt einen Sanierungsbeirat, eine Baukommission, eine Verhandlungskommission, eine Belegungskommission. Es gibt eine behördeninterne Abstimmungsrunde und das Plenum im Gängeviertel, in dem alles Besprochene regelmäßig vorgestellt und diskutiert wird. Und immer geht es um die Frage: Was kann oder muss um welchen Preis erhalten werden? Und was wird trotz des Denkmalschutzes zerstört, weil die unzähligen Bauvorschriften eine andere Lösung nicht zulassen?

Wie schwer die Lösung dieser Fragen im Detail ist, lässt sich an der „Fabrique“ erzählen. Die Instandsetzung und Modernisierung des fünfstöckigen Fabrikgebäudes am Valentinskamp zu einem Zentrum für Kunst, Kultur und Soziales für bis zu 200 Besucher soll in diesem Monat beginnen. Im Erdgeschoss sollen später Konzerte, Lesungen, Ausstellungen und Filmvorführungen stattfinden. In den oberen Stockwerken sind Arbeitsräume und Ateliers geplant.

Nach langer Diskussion werden jetzt Fenster mit Kunststoffrahmen eingebaut und ein zweites Treppenhaus samt Fahrstuhl errichtet. Was maßgebliche Vorteile für Barrierefreiheit, Brandschutz und Energieeffizienz mit sich bringt, lässt anderen das Herz bluten, weil sie finden, dass durch diese Baumaßnahmen „der Charakter des Gebäudes erheblich verändert wird“. Außerdem kritisiert die Initiative, dass das Gängeviertel durch die zeitgleiche Sanierung von Jupi-Bar und Fabrique jetzt über Monate ohne Veranstaltungsmöglichkeit sein wird. „Eine Tatsache, die von Beginn an bei der Planung ausgeschlossen wurde“, so Ebeling. Das Problem für die Stadt: Ist die knapp drei Millionen Euro teure Sanierung der Fabrique nicht bis Ende 2015 abgeschlossen, müssen 400.000 Euro EU-Gelder zurückbezahlt werden.

Grundlage für sämtliche Baumaßnahmen ist das sogenannte integrierte Entwicklungskonzept, kurz IEK. Es wurde nach der Bestandsaufnahme im Sommer 2010 von allen Beteiligten erarbeitet. Handlungsbedarf bestand im Grunde von unten bis oben: schwache Fundamente, starke Durchfeuchtungen, marode Fenster und Dachstühle, bröckelnde Fassaden, mangelnder Schall-, Wärme- und Brandschutz sowie komplett neu zu installierende Haustechnik (Sanitär, Heizung, Elektrik).

Wie lautet das Fazit der Stadt nach fünf Jahren? „Die gemeinsame Arbeit ist immer noch sehr anstrengend und fordert allen Beteiligten hohe Kompromissfähigkeit ab. Die erzielten Fortschritte rechtfertigen aber den großen Aufwand“, sagt Hans Joachim Rösner. „Für uns steht die Selbstverwaltung des Gängeviertels nicht zur Diskussion. Es gibt hier viele Menschen, die durch die Mitarbeit in der Initiative für sich wieder eine Perspektive in ihrem Leben gefunden haben und sich nun in den verschiedensten Formen engagieren, einbringen und fortbilden“, sagt Christine Ebeling. Und das sei, neben der Rettung der historischen Häuser und der Schaffung von preiswertem Wohnraum in der City, einer der wichtigsten Aspekte in dem ganzen Projekt. Und nicht zu vergessen: „Hier entsteht täglich Kunst. Und diese Kultur ist für alle erlebbar und lädt zum Mitmachen ein.“