Bürgermeister Olaf Scholz spricht im Interview über die möglichen Folgen des Volksentscheids für Hamburgs Finanzen und seine Haltung zu den Befürwortern des Netze-Rückkaufs.

Hamburg. Drei Tage vor der Bundestagswahl und dem Volksentscheid über den Rückkauf der Energienetze gilt es für die Politiker, die letzten Kräfte zu mobilisieren. Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) ist darauf eingestellt: Am Morgen war er noch zum Rudern auf der Alster, am Nachmittag stellte er sich den Fragen des Abendblatts.

Hamburger Abendblatt: Der Bundestagswahlkampf geht in die Schlussphase, und die Nation debattiert über den ausgestreckten Mittelfinger des Kanzlerkandidaten der SPD. Hat die SPD es nötig, zu solch drastischen Mitteln zu greifen?
Olaf Scholz: Keiner hat das Bild als ein Mittel im Wahlkampf missverstanden. Bei der Bundestagswahl geht es darum, wie dieses Land in Zukunft regiert werden kann. Und beim TV-Duell mit Frau Merkel hat sich gezeigt: Peer Steinbrück wäre ein guter Bundeskanzler, der versteht, was notwendig ist, um Deutschland voranzubringen.

Ist diese Geste denn aus Ihrer Sicht eines Bundeskanzlers würdig?
Scholz: Peer Steinbrück hat eine Fotostrecke gemacht, in der er mit Gesten auf lustige Fragen geantwortet hat – und das hat eine lustige Debatte ergeben. Ich glaube nicht, dass das von den eigentlich wichtigen Fragen ablenkt.

Wann haben Sie denn das letzte Mal jemandem den Mittelfinger gezeigt?
Scholz: Ich erinnere mich nicht.

Die SPD setzt im Wahlkampf auf Mindestlohn, den Abbau von Leiharbeit und höhere Steuern für die Reichsten. Das sind alles Punkte, für die es in der Bevölkerung breite Zustimmung gibt. Warum kann die SPD daraus kein Kapital schlagen?
Scholz: Ich plädiere seit Jahren dafür, dass Politiker Vorschläge machen, weil sie sie für richtig halten, und nicht, um daraus irgendein Kapital zu schlagen. Natürlich erhoffen wir uns, dass unsere Vorschläge dazu beitragen, dass das Wahlergebnis der SPD besser ausfällt als in Umfragen vorhergesagt – und es sieht ja alles danach aus.

Aber es gibt keine ausgeprägte Wechselstimmung in der Bevölkerung, obwohl doch die Unzufriedenheit mit der schwarz-gelben Koalition recht groß ist.
Scholz: Die Lage Deutschlands ist im Vergleich mit anderen europäischen Ländern ganz gut. Aber es geht nicht allen in unserem Land gut. Deshalb sprechen wir über Mindestlöhne und die Begrenzung der Leiharbeit. Und damit Deutschland auch in Zukunft gut dasteht, muss man ganz andere Dinge tun, als die heutigen Verantwortlichen vorhaben. Wir müssen mehr in die Infrastruktur investieren. Straßen und Schienen sind in keinem guten Zustand. Und die Energiewende wird von der Bundesregierung verstolpert.

Themenwechsel: In drei Tagen entscheiden die Hamburger per Volksentscheid über den Rückkauf der Energienetze, gegen den Sie strikt sind. Haben Sie ein flaues Gefühl, weil Sie Ihre erste Niederlage als Bürgermeister einfahren könnten?
Scholz: Ein flaues Gefühl habe ich nur wegen der Schulden, die ja bei einem Volksentscheid entstehen würden. Dass zu den weit über 20 Milliarden Euro Schulden der Stadt noch einmal zwei Milliarden Euro hinzukommen könnten, wenn wir die Netze kaufen müssten, und dass die Stadt damit in einer Krisensituation überfordert sein könnte, das beunruhigt mich. Im Übrigen: Ich bin ein so großer Anhänger von Volksentscheiden, dass ich ihr Ergebnis nicht mit Kriterien wie Sieg oder Niederlage verbinde. Daher habe mich nie darüber beklagt, dass über die Netze-Frage ein Volksentscheid durchgeführt wird. Wir haben ihn in der SPD ja schon vor der Wahl 2011 vorhergesehen, unsere Position festgelegt und nach der Wahl umgesetzt: Wir haben uns mit 25,1 Prozent an den drei Netzgesellschaften beteiligt.

Sie haben einmal gesagt, dass der Erwerb von 25,1 Prozent der Netze ein „Geschäft ohne Risiko“ sei. Warum warnen Sie dennoch so vehement vor dem Erwerb von 100 Prozent?
Scholz: Weil es einen gewaltigen Unterschied macht, ob ich 540 Millionen Euro Schulden mache oder zwei Milliarden. Weil ich mir Sorgen mache um die beschriebene Verschuldung der Stadt, um die Pensionslasten und andere Risiken, zum Beispiel mit Blick auf die HSH Nordbank oder steigende Zinsen. Im Übrigen haben wir im Zuge der 25,1 Prozent-Beteiligung mit unseren Vertragspartnern Vattenfall und E.on viele Projekte zur Energiewende vereinbart. Und die Unternehmen garantieren der Stadt eine Dividende, von der wir die Kredite bedienen können, die wir zum Kauf dieser Anteile aufnehmen mussten. Wenn wir 100 Prozent erwerben, garantiert uns das niemand. Und wenn es schief geht, müssen die Steuerzahler die Verluste ausgleichen. Das ist der große Unterschied zwischen den beiden Alternativen, über die die Bürger am Sonntag abstimmen.

Haben Sie Verständnis für die Menschen, die sich nach den vermeintlich guten alten HEW zurücksehnen und mit Vattenfall nichts anfangen können?
Scholz: Habe ich. Ich würde es auch gut finden, wenn die HEW heute noch im Eigentum der Stadt wären. Ich mache aber die Einschränkung, dass wir dann heute Mitbesitzer mehrerer stillgelegter Atomkraftwerke sowie eines, das noch läuft, wären. Es ist ein bisschen unseriös, Vattenfall dafür zu kritisieren, dass sie uns diese Atomkraftwerke abgekauft haben.

Warum hat Vattenfall ein so negatives Image in Hamburg?
Scholz: Ich bin überzeugt, dass die von mir ja geteilte Kritik an der Atomenergie eine Ursache ist. Die großen Energiekonzerne sind viel zu spät auf die Nutzung erneuerbarer Energien umgestiegen.

Manche sagen, Städte und Kommunen würden mit dem Betrieb der Netze Geld verdienen.
Scholz: Erstens gibt es auch viele, die das gedacht haben und jetzt Geld verlieren. Und zweitens haben diejenigen, die Geld damit verdienen, deswegen Erfolg, weil sie für den Kauf keine Kredite aufnehmen müssen, sondern aus eigenem Anlagevermögen investieren können. Wenn man keine Schulden aufnehmen muss, kann der Erwerb der Netze durchaus sinnvoll sein und bessere Zinsen bringen, als wenn man das Geld auf die Bank bringen würde. Aber wir haben das Geld nicht auf der Bank, wir nehmen es von der Bank und müssen dafür Zinsen zahlen. Die Gefahr ist groß, dass die schmale Differenz zwischen zu zahlenden Zinsen und den Dividenden wegschmilzt und man in die roten Zahlen rutscht.

Aber andererseits garantiert die Netzagentur Durchleitungsgebühren, die mindestens auskömmlich sind.
Scholz: Nein. Die Bundesnetzagentur ermöglicht eine Eigenkapitalrendite, indem sie dafür eine Höchstgrenze festsetzt. Sie garantiert keine Dividende auf das Ganze. Und sie garantiert auch nicht, dass man keine Verluste macht. Es hängt also von der Effizienz des Managements ab. Natürlich könnte man auch die Löhne der Mitarbeiter senken, um die Rendite zu steigern. Das alles wollen wir in Hamburg nicht. Im Übrigen: Schon jetzt beklagen sich alle über zu hohe Strompreise. Da darf man doch nicht erwarten, dass die Netzagentur sagt, jetzt dürft ihr die Preise noch mal ordentlich anheben. Außerdem: Wer will das?

In den letzten Tagen hat es eine Eskalation der Auseinandersetzung gegeben. Unter anderem steht die evangelische Kirche wegen ihrer finanziellen Unterstützung der Initiative in der Kritik. Halten Sie das Engagement der Kirche für legitim?
Scholz: Die Kirche selbst muss diskutieren, welches Engagement sie richtig findet. Angesichts unserer Staatsverfassung wäre es nicht gut, wenn der Bürgermeister der Kirche Ratschläge gibt.

Und die Verbraucherzentrale, die die Rückkauf-Initiative maßgeblich mitträgt?
Scholz: Wir sind ganz lässig in dieser Frage. Die Verbraucherzentrale wird mit öffentlichem Geld unterstützt. Trotzdem haben wir ihr niemals einen bösen Brief geschrieben und gefragt, wie sie dazu kommt, gewissermaßen gegen den eigenen Geldgeber Politik zu machen. Das mache ich jetzt auch kurz vor Schluss der Kampagne nicht.

Umgekehrt zahlt jeder Vattenfall-Kunde mit seinen Strom-Gebühren die sehr teure Kampagne gegen den Rückkauf. Warum finden Sie das in Ordnung?
Scholz: Wenn man für Volksentscheide ist, muss man auch dafür sein, dass wie Befürworter und Gegner sich auch die Betroffenen selbst zu Wort melden melden dürfen. Die Aufregung kann ich kaum nachvollziehen.

Aber es gibt doch große Unterschiede, was die finanziellen Möglichkeiten angeht.
Scholz: Dafür gibt es keine Regeln. Man kann vieles diskutieren bei Volksentscheiden. Ich habe mich entschieden, mich nicht mehr aufzuregen. Ich rege mich zum Beispiel nicht darüber auf, dass die Bürger beim jetzigen Volksentscheid über den Netze-Rückkauf eine Frage vorgelegt bekommen, die nicht fair ist. Da steht ein harmloser Satz, der nicht deutlich macht, wie teuer die ganze Sache ist.

Gibt es schon Vorbereitungen für den Fall, dass der Volksentscheid erfolgreich ist?
Scholz: Wir wissen, was wir dann zu tun haben.

Was sind die ersten Schritte?
Scholz: Wir werden die beiden Vertragspartner Vattenfall und E.on fragen, ob sie uns ihre 74,9-Prozent-Anteile an den Netzen auch noch verkaufen. Ich vermute, dass sie Nein sagen. Aber fragen kostet ja nichts. Dann werden wir die bestehenden Verträge kündigen und bekommen unser Geld für die Viertel-Beteiligungen zurück. Und schließlich würden wir uns um die einzelnen Konzessionen für den Netzbetrieb bemühen. Das betrifft zunächst das Stromnetz. Die Konzession muss dann unter allen Bewerbern, einschließlich der eigenen Netzgesellschaft, diskriminierungsfrei und nach klaren gesetzlichen Regeln entschieden werden. Wenn ich unterstelle, dass wir in allen drei Fällen – für das Strom-, Gas- und Fernwärmenetz – den Zuschlag bei der Konzessionsvergabe bekommen, rechne ich damit, dass wir sieben Prozesse führen müssen.

Warum?
Scholz: Die jeweils unterlegenen Unternehmen werden klagen. Dann wird es Streit um die Höhe des Kaufpreises geben. Noch mal drei Prozesse. Und ein weiteres Verfahren läuft ja bereits, weil wir uns mit Vattenfall darüber streiten, ob das Fernwärmenetz überhaupt per Konzession vergeben werden darf.

Wie lange dauern die juristischen Auseinandersetzungen Ihrer Meinung nach?
Scholz: Meine Vermutung ist: Wir würden uns statt mit der Energiewende das ganze restliche Jahrzehnt mit diesen Prozessen beschäftigen. Das ist einer der Gründe, weshalb ich gesagt habe: Es ist besser, mit den Unternehmen hart zu verhandeln und so zu einem guten Ergebnis zu kommen, als den Weg über die Gerichte zu gehen. Das wäre ein steiniger Weg, den wir da vor uns hätten.

Das erinnert an die Elbphilharmonie, wo Sie sich mit Hochtief unter anderem geeinigt haben, um zu verhindern, dass man Jahre lang prozessieren muss. Hat Sie der Mut verlassen?
Scholz: Ich bin ziemlich mutig. Auch mutig genug, vernünftige Entscheidungen zu treffen und nicht jeder populistischen Regung nachzugeben.

Sie haben angekündigt, 2015 erneut für das Amt des Bürgermeisters kandidieren zu wollen. Bleiben Sie im Falle Ihrer Wiederwahl volle fünf Jahre im Amt?
Scholz: Ich bin sehr gern Bürgermeister. Das kann ich mir für sehr lange Zeit vorstellen, wenn die Bürger mich lassen. Ich habe auch keine anderen Pläne, die ich mit mir herumschleppe.

Es gibt aber Ämter, die mit dem des Bürgermeisters vereinbar sind. Zum Beispiel das Amt des SPD-Vorsitzenden, für das Sie gehandelt werden.
Scholz: Ich wüsste nicht, warum es einen neuen SPD-Vorsitzenden geben müsste. Ich bin lange genug in der Politik, um zu wissen, dass manchmal mit einem Pläne geschmiedet werden, um die man nicht gebeten hat. Meine Perspektive ist klar: Ich bin mit großer Freude und großem emotionalen und zeitlichen Engagement Bürgermeister dieser Stadt. Das hat Priorität vor allem anderen.

Sie schließen es aber auch nicht aus.
Scholz (lacht): Das ist die dümmste Journalistenfrage unter der Sonne, die leider immer wieder gestellt wird.

Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung.
Scholz: Ich bin mit dem, was ich hier tue, gut ausgelastet.

Sollen wir Sie jetzt noch nach der Kanzlerkandidatur 2017 fragen?
Scholz: Lassen Sie es bleiben. Es wird lächerlich.