Warum Dr. Jürgen Stieh in Wilhelmsburg mehr Patienten, aber weniger Geld als seine Kollegen hat
Wilhelmsburg. Ibrahim guckt Fernsehen. Sehr viel sogar. Zwei bis drei Stunden am Tag. Süßigkeiten mag er auch gern. Weil seine Mutter sich aber nicht darum kümmert, dass ihr Sohn regelmäßig Zähne putzt, hat er bereits mit zwei Jahren Karies. Deutsch kann seine afghanische Mutter kaum, und auch Ibrahim lernt zu Hause Afghanisch. Aber die deutschen Worte für Eis und Pommes kennt er gut. Was ein Puzzle ist, weiß er dagegen nicht. Dass zu viel Zucker nicht gut für Kinder ist, Fernsehen dumm macht und Obst und Gemüse besser sind als Pommes und Schokolade, muss Kinderarzt Jürgen Stieh den Eltern seiner kleinen Patienten täglich aufs Neue erklären. Auch Ibrahims Mutter, die an diesem Tag zur Vorsorgeuntersuchung U 7 in die Wilhelmsburger Kinderarztpraxis gekommen ist, schlägt er vor, sich mit ihrem Sohn auch mal Bilderbücher anzuschauen. Bis zu einer Stunde täglich.
Was für Eltern in Eppendorf oder Eimsbüttel zumindest meistens selbstverständlich ist, muss in dem sozial schwachen Wilhelmsburg vielen immer wieder aufs Neue erklärt werden. Der Großteil der Patienten von Jürgen Stieh kommt aus Familien mit Migrationshintergrund. "Ich bin Sozialarbeiter, Erziehungsberater und Kinderarzt", sagt der Mediziner, der seine Praxis vor sieben Jahren an der Krieterstraße nahe der S-Bahn-Station Wilhelmsburg eröffnet hat.
Zwei weitere Kinder- und Jugendmediziner gibt es im Stadtteil. Was die Anzahl der Patienten und den Zeitaufwand pro Patient angeht, seien drei Kinderärzte für ganz Wilhelmsburg zu wenig, sagt Stieh. Trotz der vielen kleinen Patienten, die es in Wilhelmsburg gibt, sei sein Einkommen dennoch niedriger als das seiner Kollegen. Geld lässt sich mit Privatpatienten am besten verdienen. Von denen gibt es in seiner Praxis gerade mal zehn - das ist eine zu vernachlässigende Größe bei 2500 Kindern im Quartal. 60 000 bis 65 000 Euro brutto verdient Stieh im Jahr - bei einer Arbeitszeit, die schon mal von 8 bis 21.30 Uhr dauern kann. Bei den Kollegen in den besser situierten Stadtteilen dürfte das Jahreseinkommen deutlich höher sein, ist sich Jürgen Stieh sicher.
Nach den Plänen der Bundesregierung sollen Arztpraxen in schlecht versorgte Stadtteile verlagert werden. Die Frage aber ist, ob die Mediziner dort überhaupt wirtschaftlich arbeiten können. Stieh: "Ökonomisch gesehen kann Wilhelmsburg trotz der vielen Patienten einen weiteren Kinderarzt gar nicht verkraften."
Während in anderen, strukturstärkeren Stadtteilen ein Kind statistisch im Quartal 2,5-mal zum Kinderarzt kommt, und das bei 1000 Patienten 2500 Arzt-Patienten-Kontakte ergibt, sind es in der Praxis von Dr. Stieh durchschnittlich sechs Besuche im Quartal pro Patient. 15 000-mal sieht er demnach rechnerisch Patienten innerhalb von drei Monaten.
Für seine Sprechstunden, gerade für die Vorsorgeuntersuchungen, bei denen der Entwicklungsstand eines Babys und Kindes ermittelt wird, muss Stieh häufig mehr Zeit investieren als seine Kollegen in den bürgerlichen Vierteln. Dauert die U 7 bei einem 21 bis 24 Monate alten Kind im Schnitt eine halbe Stunde, kommen bei Kindern, bei denen weder das Kind noch die Eltern Deutsch sprechen, 45 bis 60 Minuten zusammen. "Die Sprachuntersuchungen sind extrem schwer, weil man so viel nachfragen muss. Bis zum vierten Lebensjahr sprechen die meisten Kinder hier kein Deutsch."
31 Euro brutto im Quartal - für drei Monate Arbeit also - bekommt ein Kinderarzt in Hamburg pro Patient, egal ob die Behandlung sieben Minuten dauert oder 45. Egal, wie häufig der Patient in die Praxis kommt. "Von den 31 Euro bezahle ich meine komplette Mannschaft, die Miete und Kredite", so Stieh. Vier Vollzeitkräfte, zwei Auszubildende und zwei Teilzeitkräfte gehören zum Team. Damit es mit der Verständigung besser klappt, sprechen seine Mitarbeiterinnen sechs verschiedene Sprachen.
Trotz der Widrigkeiten, obwohl der Erziehungs- und Ernährungsstil sich so sehr von deutschen Maßstäben unterscheidet, möchte der Kinderarzt gar nicht in einem anderen Stadtteil arbeiten: "Mich interessieren meine Patienten in ihrer Verschiedenheit, das fasziniert mich. Meine Patienten und ich haben eine ganz besondere Bindung."