Eine Expedition will das Wrack des Kleinen Kreuzers “Wiesbaden“ finden: Auf dem Schiff diente der Finkenwerder Dichter Gorch Fock.
Hamburg. Juni 1916, etwa 80 Seemeilen querab des dänischen Hirtshals: Seit dem Nachmittag des Vortages brüllt schweres Artilleriefeuer über die Nordsee. Feuerschein blitzt immer wieder auf. Es riecht nach Ruß und Tod. Im Skagerrak wollen britische und deutsche Admiräle die große Entscheidungsschlacht ihrer Flotten. Der Kleine Kreuzer "Wiesbaden" treibt Stunden schon zwischen den Fronten dieser Hölle zu See. Ein Treffer hatte früh die Maschine erwischt. Immer wieder schießen britischen Kanoniere auf das Schiff. Um vier Uhr schließlich sinkt das 142 Meter lange Schiff im ersten, fahlen Morgenlicht. Die wenigen Überlebenden der fast 600-köpfigen Besatzung versuchen, sich mit Schwimmwesten zu retten. Mit an Bord ist auch der 36-jährige Finkenwerder Schriftsteller Gorch Fock.
Hamburg, gut 94 Jahre später: Luftblasen blubbern im Magdeburger Hafen hoch, zwei dunkle, robbenähnliche Köpfe sind zu sehen. Zwei Taucher schälen sich schließlich aus dem schmutzig grauen Wasser vor der Kulisse von HafenCity und Maritimem Museum. Derk Remmers und Jens Hilbert demonstrieren für Öffentlichkeit und Sponsoren ihre Technik, mit der sie in wenigen Tagen auf Tauchexpedition in die Nordsee gehen werden. Zusammen mit sechs weiteren Team-Mitgliedern wollen sie das Wrack der "Wiesbaden" suchen. Nur ungefähre Koordinaten sind davon bekannt, wie viel noch übrig ist von dem 1915 in Stettin gebauten Schiff, weiß keiner. Von der Stadt Wiesbaden haben Remmers und Hilbert eine Gedenktafel mitbekommen, die sie dort in etwa 50 Meter Tiefe anbringen wollen. Zudem gibt es den Plan, für das Hamburger Museum ein Ausstellungsstück zu bergen. Filmaufnahmen sollen die Expedition dokumentieren.
"Nee", sagt Derk Remmers, als er sich wenig später wieder aus seinem schwarzen Trockenanzug windet, "nee, nur bunte Fische gucken, das ist nichts für mich." Der stämmige Mann mit den grau melierten Haaren grinst: Malediven, Rotes Meer - das reizt ihn nicht. "Ich bin ein leidenschaftlicher Wracksucher." Und Profitaucher. Der 38-jährige Hamburger ist selbstständiger Ausbilder, hat an etlichen Tauchexpeditionen für TV-Produktionen teilgenomme, vorzugsweise in Nord- und Ostsee. "Muss an meiner Herkunft liegen, dass ich nordische Gewässer bevorzuge", sagt er. Auf Norderney ist Remmers aufgewachsen, machte Abitur, arbeitete zunächst als Techniker in der Metallindustrie in Aachen. Vor einigen Jahren zog er zu seiner Frau, einer Ärztin, nach Hamburg.
Auch Jens Hilbert, 44 Jahre alt, ist Profitaucher. Untersetzt, breite Schultern, muskelbepackt, der kahl rasierte Kopf glänzt. Hilbert ist Soldat in Eckernförde. Kampfschwimmer-Ausbilder im Beruf und Rekordhalter in der Freizeit: 2002 tauchte er im Roten Meer 241 Meter tief, kein deutscher Taucher schaffte das bisher. Dritter wurde er bei einer Weltmeisterschaft im Apnoetauchen, im Tieftauchen ohne Gerät und nur mit eigener Atemluft.
Heute hat er die Aufgabe übernommen, die Tauchsysteme der Expedition zu erklären: Wuchtige Tauchflaschen stehen dazu im kleinen Konferenzraum des Museums. Bis zu 70 Kilogramm wiegt eine einzelne Ausrüstung. Drei Flaschen werden die Taucher jeweils dabei haben. "Trimix" heißt das Atemgasgemisch, dem auch Helium beigemengt wird. In einer Tiefe von fast 60 Metern wäre reine Pressluft zu gefährlich, sagt Hilbert. Stickoxid darin wirkt dort unten berauschend, so als würde man Sekt trinken. "Das beschwingt, ist aber nix, wenn man einen glasklaren Kopf braucht", sagt Kampfschwimmer Hilbert.
Und einen glasklaren Kopf werden sie brauchen. Das Wetter kann sich im Skagerrak schnell ändern, Windströmung ist tückisch, die Taucher können vom Basisboot abgetrieben werden. Dekompressionszeiten sind beim Auftauchen zu beachten. Für eine Stunde am Wrack rechnet das Team mit zwei Stunden Auftauchpausen.
Doch zuvor müssen sie das Wrack überhaupt finden. Und das versuchen sie nicht alleine: Viele internationale Tauchteams sind dabei. Wie bei der "Titantic" gibt es da eine Art Wettlauf, wer es als erster schafft. Zur Ausrüstung des gecharterten Angelkutters gehört daher ein modernes Schleppsonar.
Und wenn die "Wiesbaden" gefunden ist, was reizt die beiden daran, außer der Erfolg, sie gefunden zu haben? Als Antworten zeigen Remmers und Hilbert einen kleinen Filmausschnitt von ihrer ersten Expedition zu den Skagerrak-Wracks vor einem Jahr. Die "Wiesbaden" hatten sie da nicht gefunden, aber etliche andere der mehr als 20 zerschossenen Kriegsschiffe. Die Bilder zeigen Metallrohre, Schellen, Luken. Einen kompletten Schiffsrumpf. Dazwischen Schwebteilchen, kleine Fische. Dann einige Teller, einen Kamm. "Es ist schon bedrückend, wenn man daran denkt, wie viele Seeleute hier umgekommen sind", sagt Remmers. Für ihn sind diese Tauchgänge Reisen wie in einer Zeitmaschine: Das Drama des Untergangs ist in einem Moment festgehalten. Nur langsam, aber unaufhaltsam schreitet der Verfall voran. Einmal ist Remmers auch zu dem Wrack eines Massengutfrachters getaucht: "Das ist wie durch ein Schiff schweben." Ein Glücksgefühl. Doch er weiß auch: Dort unten im Skagerrak wird sich kaum ein solches leichtes Gefühl einstellen. Die Nähe des Todes bleibt. Die Schiffe sind eben Kriegsgräber. "Der Schlamm, der sich darüberlegt", sagt Remmers, "das wirkt manchmal wie ein großes Leichentuch."
Ein riesiges Leichentuch sogar: Die Skagerrakschlacht gilt als eines der größten Seegefechte der Geschichte. Fast 9000 Menschen starben bei Explosionen, ertranken oder erfroren im eisigen Wasser. Militärhistoriker sagen, es habe keinen richtigen Gewinner dieser Schlacht gegeben, auch wenn die Verluste der Grand Fleet deutlich höher waren. Die Deutschen aber konnten die Seeblockade nicht brechen, den Engländern gelang es nicht, die deutsche Flotte zu vernichten. 1918 sollte die deutsche Marine im bereits verlorenen Krieg noch einmal zu einem solchen Gemetzel auslaufen. Die Matrosen weigerten sich, die Revolution spülte das Kaiserreich hinweg.
Gorch Fock, der große Dichter aus Finkenwerder, hat das nicht mehr miterlebt. Viele Tage nach dem Untergang wurde seine Leiche an die schwedische Küste gespült. Die Schwimmweste hatte er noch an.