Kam die Elfjährige an den Heroin-Ersatz, weil ihr Vater früher Drogenprobleme hatte? Bezirkschef Schreiber: “Fall lückenlos aufklären.“
Hamburg. Mehr als zwei Stunden kämpften die Ärzte um das Leben von Chantal D. Dann mussten sie alle Hoffnung aufgeben. Am Montag vor einer Woche, um kurz nach 19 Uhr, wurde die Elfjährige für tot erklärt, alle lebenserhaltenden Geräte abgeschaltet. Seitdem ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft gegen den 41 Jahre alten leiblichen Vater der Schülerin sowie gegen ihre beiden Pflegeeltern, 47 und 52 Jahre alt, bei denen sie seit fast vier Jahren wohnte.
Wie die Obduktion der Toten durch Rechtsmediziner im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) ergab, starb das Mädchen aus Wilhelmsburg an einer Methadon-Vergiftung. Wie die Minderjährige an die bei der Behandlung Heroinsüchtiger eingesetzte Ersatzdroge gelangen konnte, ist die entscheidende Frage, die die Ermittler jetzt zu klären haben. Bislang haben sie darauf keine Antwort.
"Wir ermitteln wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung", bestätigte der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers, nachdem der NDR über den Fall berichtet hatte. "Wir müssen jetzt aufklären, wie das Kind mit dem Methadon in Berührung gekommen ist." Der leibliche Vater, zu dem die Elfjährige regelmäßig Kontakt hatte, sei früher drogenabhängig gewesen. Ob er heute noch süchtig sei, sei unklar.
"Wir untersuchen selbstverständlich auch, ob es Anhaltspunkte für Drogen in der Pflegefamilie gibt", sagte Möllers. "Wir stecken mitten in den Ermittlungen." Die Pflegeeltern hatten die Elfjährige gegen 17 Uhr leblos und bereits ohne Atmung auf ihrem Bett liegend entdeckt und einen Notarzt zur Wohnung an der Fährstraße gerufen. Nur einmal noch konnte sie wiederbelebt werden. Methadon könne bei Überdosierung das Atemzentrum im Gehirn lahmlegen und damit zum Tod durch Ersticken führen, erklärte Klaus Behrendt, Chefarzt der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen an der Asklepios-Klinik Nord Ochsenzoll.
In Deutschland wird das Mittel seit Ende der 80er-Jahre in der Drogentherapie eingesetzt: Süchtige erhalten es zumeist in Drogenambulanzen, wo sie es vor Ort konsumieren. In manchen Fällen können sie es auch per sogenanntem Take-Home-Rezept mit nach Hause nehmen. Methadon wird flüssig herausgegeben und meistens mit Fruchtsaft gemischt, damit Süchtige das Mittel nicht spritzen. Möglich ist, dass das Mädchen die Flüssigkeit für Saft hielt und sie deshalb trank.
Laut Behrendt wird Drogenabhängigen das Mittel in der Regel einmal täglich in einer Dosis von etwa 100 Milligramm verabreicht. Ein drogenabhängiges elfjähriges Mädchen dürfte nicht mehr als zehn bis 15 Milligramm erhalten, um eine Überdosis zu vermeiden.
Dem Obduktionsergebnis zufolge war die Elfjährige gesund und altersgemäß entwickelt. "Es gab keine Anzeichen für Misshandlung oder Vernachlässigung", sagte Möllers. Allerdings: "Die Wohnung war in einem unordentlichen und unaufgeräumten Zustand." Feuerwehrleute, die vor Ort eingesetzt waren, sprechen sogar von einem verwahrlosten Zustand der Vierzimmerwohnung, in der die Familie zu sechst und mit einem Hund wohnte. Die Pflegeeltern haben zwei leibliche Kinder und betreuen ein weiteres Pflegekind. Die verstorbene Elfjährige kam nach Abendblatt-Informationen 2008 in die Wilhelmsburger Familie. Ihre Mutter, eine Alkoholikerin, war zuvor gestorben, der Vater hatte Drogenprobleme. Dem Bezirksamt Mitte war die Familie nie aufgefallen. Dort hat der Fall Entsetzen ausgelöst: "Ich bin tief betroffen", sagt Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD). "Es ist unfassbar, dass ein elf Jahre altes Mädchen an Methadon kommen konnte. Dieser Fall muss lückenlos aufgeklärt werden."
Es habe bislang keinerlei Anzeichen von Kindeswohlgefährdung gegeben, sagte Bezirkssprecher Lars Schmidt-von Koss. "Mitarbeiter des Jugendamts waren noch im Januar dieses Jahres in der Familie. Chantal war zu diesem Zeitpunkt wohlauf." Die zuständigen Betreuer registrierten einen liebevollen Umgang zwischen Pflegeeltern und Chantal. Das Kind habe sich bei der Familie gut eingelebt, heißt es in einem der Berichte. Die Behörde sieht deshalb keinen Grund, die restlichen Kinder von der Familie zu trennen.
Auch die vorgeschriebenen Beratungsgespräche mit Mitabeitern des Verbunds Sozialtherapeutischer Einrichtungen (VSE) seien von den Pflegeeltern immer eingehalten worden, heißt es aus dem Bezirk. Das letzte Gespräch sei im April 2011 erfolgt, ein weiteres sei bereits für den 23. Februar angesetzt gewesen. Der Verbund habe die beiden Pflegeeltern früher auf ihre Eignung hin geprüft - mit positivem Ergebnis. Bezirkssprecher Lars Schmidt-von Koss: "Unser Jugendamt hat sich korrekt verhalten. Nun muss die Staatsanwaltschaft klären, wie es zu diesem tragischen Todesfall kommen konnte."