Winsen. 25 Jahre alte Trampolinturnerin vom HSV Stöckte ordnete ein Jahr lang fast alles dem Trip nach Tokio, in die Olympiastadt 2020 unter.

Es ist ein Bild, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. „Die Halle ist nicht lang genug für meinen Anlauf“, erzählt Jana Twesten. Damit sie auf einen Beschleunigungsweg von 25 Metern kommt, startet sie im Vorraum der Stöckter Turnhalle, rennt über den Flur durch die Eingangstür, durchquert die eigentliche Sporthalle, um am anderen Ende ihre Übung auf einem Doppelmini-Trampolin zu vollführen. „Dabei laufe ich über drei verschiedene Bodenbeläge. Und im Eingangsbereich gibt es keine Fußbodenheizung.“ Wer weiß, dass Turnerinnen nur mit dünnen Schläppchen unterwegs sind, kann nachfühlen, was das bedeutet.

Diese Szene steht stellvertretend für die Rahmenbedingungen, mit denen sich Jana Twesten im vergangenen Jahr arrangieren musste. Dabei ist die Sportlerin vom Hansa-Sportverein (HSV) Stöckte nicht irgendwer, sie ist fünffache deutsche Meisterin und auch aktuell beste Deutsche. Das Problem: Gilt Trampolinturnen auf dem Großgerät schon als Randsportart, ist das beim nichtolympischen Doppelmini erst Recht der Fall.

Vor zehn Jahren Teilnehmerin der Junioren-Weltmeisterschaften

Darum überlegte sich Twesten im Herbst 2018 genau, ob sie all die Mühen und Entbehrungen für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr auf sich nehmen möchte. Das große Ziel, das ihr vorschwebte, war die Qualifikation für die Trampolin-Weltmeisterschaften 2019 in Tokio. Damit würde sich zehn Jahre nach ihrer ersten und bis dato einzigen WM-Teilnahme ein Kreis schließen. Die damals 15-Jährige hatte 2009 unter Anleitung ihres inzwischen verstorbenen Trainers Gerd Ruschmeyer den Sprung zu den Junioren-Weltmeisterschaften in St. Petersburg geschafft. Auf dem Großgerät belegte sie den 37. Platz.

Gut neun Jahre später folgten Gespräche mit der Familie, dem Verein, dem Bundestrainer und dem Arbeitgeber. Die Medizinisch-Technische Assistentin (MTA) ist in Vollzeit und Schichtbetrieb beim Labor Dr. von Froreich am Großmoorbogen in Harburg beschäftigt. „Wenn das Krankenhaus oder Hausärzte aus Winsen mikrobiologische Analysen benötigen, landen die oft bei mir auf dem Tisch“, erzählt Twesten. Ihr Chef gestand ihr unter anderem zu, dienstags und donnerstags keinen Spätdienst machen zu müssen, damit Twesten sich selbst und parallel die Stöckter Nachwuchsgruppe trainieren konnte.

Arbeitgeber passt Arbeitszeiten an die Trainingszeiten an

Als auch alle anderen signalisierten, Twesten beim Projekt WM-Start unterstützen zu wollen, entschied sich auch die Sportlerin dazu. „Ich habe damit gerechnet, alles allein und ohne Trainer machen zu müssen“, sagt die 25-Jährige, die in Winsen wohnt. Immerhin konnte sie Sarah Brokopp, die Trainerin beim HSV Stöckte und MTV Luhdorf-Roydorf war und ist, dazu bewegen, einmal die Woche mit ihr zu arbeiten. Daneben trainierte Twesten zweimal pro Woche unter den eingangs beschriebenen Bedingungen allein, fuhr gelegentlich zum Bundestrainer Olaf Schmidt (Bramfelder SV) und legte, wenn Zeit blieb, Einheiten im Fitnessstudio ein.

Da das alte Doppelminitrampolin des HSV Stöckte nicht mehr den Belastungen einer Spitzenathletin gewachsen war, schaffte der Verein ein neues an. Die Kosten von etwa 4500 Euro konnte der HSV mit Unterstützung des Kreissportbundes und von Sponsoren wuppen.

HSV Stöckte schafft ein neues Doppelmini für 4500 Euro an

Nun ging es an die Qualifikationswettkämpfe. Für das WM-Ticket forderte der Deutsche Turnerbund bei zwei von vier Qualiwettkämpfen einen Mindestwert von 68 Punkten. „Das war unvorstellbar hoch. So viele Punkte und eine so hohe Schwierigkeit hatte ich noch nie geturnt“, beschrieb Twesten die ersten Gedanken. Im Kopf legte sie sich bald eine Übung zurecht, mit der die 68 Punkte spätestens im Herbst möglich sein sollten. Dass sie auf einem guten Weg ist, wurde bei den ersten zwei Qualifikationen – den deutschen Meisterschaften im März in Weingarten (1. Platz) und im Mai in Schweden – mit jeweils 67,1 Punkten deutlich.

Das ist wie fliegen. WM-Teilnehmerin Jana Twesten beim Training auf dem Doppelmini in der Stöckter Turnhalle.
Das ist wie fliegen. WM-Teilnehmerin Jana Twesten beim Training auf dem Doppelmini in der Stöckter Turnhalle. © HSV Stöckte | Mathes Becker

Bei einem Wettkampf im August in Bramfeld knackte Jana Twesten mit 68,3 Punkten erstmals die magische Grenze und musste diese Leistung Anfang August in Nottuln bei Münster bestätigen. „Vor diesem Wettkampf war ich ultranervös. So nervös war ich noch nie“, berichtet sie. Auf die Leistung wirkte sich das nicht negativ aus. Twesten turnte mit 68,5 Punkten sogar zwei Zehntel mehr und löste das begehrte Ticket zu den Weltmeisterschaften nach Japan.

Athleten müssen Eigenanteil von 3050 Euro für die WM-Reise tragen

Das große Ziel des aufwendigen Projekts war erreicht. Nun ging es wieder ans Klinkenputzen. Der Deutsche Turnerbund und das Technische Komitee übernahmen zwar einen Teil der Reisekosten, für die Sportler blieb aber ein Eigenanteil von 3050 Euro. „Auch den habe ich mit Spenden von Freunden, Familie und Unternehmen zusammen bekommen“, so Twesten.

Die Weltmeisterschaften wurden im Ariake Gymnastics Centre im Süden der Metropole Tokio ausgetragen. In der gigantischen Halle mit Platz für 12.000 Zuschauer werden im kommenden Jahr die Olympiamedaillen im Kunst- und Trampolinturnen vergeben. „Beim Warmmachen und Einturnen war ich irre nervös“, so Jana Twesten, „beim Wettkampf selbst ging es dann. Ich hatte mein Ziel, überhaupt teilzunehmen, ja schon erreicht. Ich hatte keine Erwartungen an eine bestimmte Punktzahl und wollte so gut turnen wie ich kann.“

Punktabzug für Landung außerhalb des optimales Bereichs

Da die Kampfrichter auf internationaler Ebene strenger sind, war sie mit 33 Punkten für den ersten Durchgang zufrieden. „Im zweiten Durchgang habe ich den Aufgang nicht so optimal getroffen. Das passiert bei einer von 20 Übungen.“ Twesten musste eine Schraube weglassen und landete außerhalb des optimalen Bereichs, was einen Abzug von 0,9 Punkten nach sich zieht. Für den zweiten Durchgang bekam sie 32 Punkte, in der Summe 65. Das bedeutete den 25. Platz für die einzige Deutsche im 34-köpfigen, hochkarätigen Starterfeld.

„Ich habe zwei vollständige Durchgänge geturnt und bin voll zufrieden, auch wenn ich ein paar Punkte liegen gelassen habe.“ Und übers rein Sportliche hinaus? „Es war ein super-cooles Erlebnis, mit so vielen tollen Athleten gemeinsam eine Weltmeisterschaft bestreiten zu dürfen. Sich den Besten der Welt zugehörig zu fühlen, war sehr bewegend“, sagte die sympathische Winsenerin.

25. Platz unter den Besten der Welt – nur acht erreichen das Finale

Ein bisschen ärgerte sie sich, einen Nationenplatz für die World Games 2021 in den USA, das sind die Weltspiele der nichtolympischen Sportarten, um einen Rang verpasst zu haben. Dabei dachte Twesten generell an eine deutsche Turnerin, weniger an sich. Für die Entscheidung, wie es mit ihr sportlich weitergeht, will sie sich nämlich Zeit lassen.

„Ich bin im vergangenen Jahr an meine Grenzen und die Grenzen meines Umfelds gegangen“, sagt die Leistungssportlerin. „Über Weihnachten werde ich mir Ruhe gönnen und überlegen, ob ich genügend Energie habe, die EM im kommenden Jahr anzugehen.“ Ein wenig informiert hat sie sich schon – ganz unverbindlich, versteht sich. Die nächsten Trampolin-Europameisterschaften werden im Mai 2020 in Göteborg in Schweden ausgetragen, die Qualifikationsnorm liegt bei 67 Punkten. Ein Wert, den Jana Twesten 2019 viermal übertroffen hat.

Könnte also sein, dass sich in der Stöckter Turnhalle bald wieder Türen öffnen und eine junge Frau mit eiskalten Füßen vom Vorraum über den Flur in die Halle rennt.