Buchholz. Interview mit Andreas Neuhaus, stellvertretender Sportwart des Deutschen Tanzsportverbandes, zu den Entwicklungen im Lateintanzen.

Mit dem fünften und damit letzten Turnier in Bremen ist für die Lateinformation von Blau-Weiss Buchholz die Bundesligasaison 2019 Vergangenheit. Das Team von Cheftrainerin Franziska Becker und ihren Assistenten endete unter den acht stärksten deutschen Formationen im Lateintanz auf Platz vier.

Nur auf Platz vier! In dieser knappen, endgültigen Bilanz steckt Bitterkeit und Enttäuschung. Ein sportliches Drama sogar. Denn die Buchholzer waren mit „Rhythm – lives in you“, einer neuen, mitreißenden Musik und einer angriffsfreudigen Choreographie in die neue Saison gestürmt. Und sie ließen die Konkurrenz selbstbewusst wissen: „Wir wollen Zweite in der Bundesliga werden.“ In den Jahren zuvor war es sowohl bei der deutschen Meisterschaft als auch in der Bundesligasaison fast immer der dritte Platz gewesen. Bei der traditionellen Generalprobe im Dezember vergangenen Jahres wurden sie von ihren Fans bejubelt und gefeiert.

Und das blieb auch während der fünf Turniere der Bundesliga so, und zwar nicht nur Anfang Februar in der heimischen Nordheidehalle. Die acht Lateinpaare von Blau-Weiss Buchholz hatten die Zuschauer eigentlich immer auf ihrer Seite. Aber eben nicht die Wertungsrichter.

Andreas Neuhaus, stellvertretenden Sportwart im Deutschen Tanzsportverband (DTV).
Andreas Neuhaus, stellvertretenden Sportwart im Deutschen Tanzsportverband (DTV). © Tanzsport Deutschland | Foto Engler Bremerhaven

Wenn die Urteile der tanzbegeisterten Laien und der sportlicher Entscheider so deutlich auseinanderklaffen, wird auf den Rängen Kritik laut, und es bleiben Fragen offen. Eben diese Fragen hat das Hamburger Abendblatt Andreas Neuhaus gestellt. Er ist stellvertretender Sportwart des Deutschen Tanzsportverbandes, selbst internationaler Wertungsrichter und er hat das Bundesliga-Turnier in Buchholz geleitet.


Herr Neuhaus, warum beurteilen Zuschauer und Wertungsrichter eine Formation häufig so gegensätzlich?

Der Zuschauer hat es einfacher. Er hört eine Musik und muss mit den Augen die Tänzer damit in Einklang bringen. In der Summe macht der Wertungsrichter nichts anderes. Sein Urteil ist nur viel differenzierter und feingliedriger und dazu in vier verschiedenen Gebieten festgeschrieben.

Was sind das für Wertungsgebiete?

Zuerst die Musik: Die Wertungsrichter gucken, ob alle 16 Tänzerinnen und Tänzer im Takt des jeweiligen Rhythmus der fünf Lateintänze sind. Gezeigt werden müssen Samba, Cha-Cha-Cha, Rumba, Paso Doble und Jive.
Zweitens die Technik: Die getanzten Körperlinien, die Fußtechniken, die Drehungen- Pirouetten – ob alle 16 in der Formation exakt dasselbe tanzen.
Drittens die Ausführung der Choreographie: Stimmen in den Bildern die Linien, die Reihen, die Kreise mit jeweils dem richtigen Abstand.
Viertens der Ausdruck und die Durchführung: Fließen die getanzten Bilder in einander oder bleiben die Tänzer stehen, wenn sie zu einer neuen Schrittkombination ansetzen.
Dazu kommt der Ausdruck der 16 Aktiven, ihre Ausstrahlung, ihre Überzeugungskraft. Jede der vier Sektionen wird mit Noten von eins bis zehn bewertet.

Wie erfahren die Formationen von ihrer Bewertung?

Am Ende zeigen die Wertungsrichter mit der entsprechenden Tafel an, welche Formation sie auf Platz eins sehen, welche auf Platz zwei und so weiter. Derzeit wird aber ein neuer Modus ausprobiert. Vier Wertungsrichter unten auf der Tanzfläche bewerten Musik und Technik und vier weitere Wertungsrichter oben auf der Tribüne die Choreographie und die Ausführung.

Die Buchholzer fühlen sich wohl ein wenig als Opfer. Gibt es noch Differenzen bei dieser Neuerung?

Es gibt Diskussionsbedarf, sicher. Wir werden das noch ein weiteres Jahr testen.

Hatte das auch Einfluss auf den überraschenden Ausgang dieser Bundesligasaison? Zwölf Jahre war Grün-Gold Bremen deutscher Abonnements-Meister gewesen. Das Tanzsportzentrum Velbert hat ihnen jetzt den Titel entrissen. Ein Zeichen für große Veränderungen im Formationstanz?

Nein, der Wachwechsel an der Spitze hatte personelle Gründe. Nach dem Erfolg bei der Weltmeisterschaft haben sich einige erfahrene Tänzerinnen und Tänzer bei den Bremern zurückgezogen.

Der Antrieb eines jeden Spitzensportlers ist, im übertragenen Sinne, das Streben nach „Höher, schneller, weiter“. Im Formationstanz heißt das, mit der Choreographie spektakulär Neues zu wagen. Wird, wer sich zu weit vorwagt, von den Wertungsrichtern häufig zurückgepfiffen?

Die Wertungsrichter nehmen natürlich Einfluss auf die Gesamtrichtung. Neue Trends aber kommen nicht über Nacht. Sie entwickeln sich meist zuerst bei den Einzelpaaren.

Was ist der aktuelle Trend bei den Lateinformationen?

International geht es stärker ins leicht Akrobatische. Und die Schnelligkeit wird immer rasanter. Dazu ist absolute Exaktheit gefordert.

Freut Sie diese Entwicklung?

Ob das gut ist, will ich nicht bewerten. Leider geht bei diesem Trend das spezifisch Tänzerische und musikalisch Rhythmische verloren.

Kann ein Hobbytänzer überhaupt noch erkennen, ob gerade eine Samba oder ein Jive getanzt wird?

Selbst wer aus der Tanzschule die Grundelemente noch im Ohr und in den Beinen hat, bekommt beim Formationstanz Probleme, die einzelnen Tänze heraus zu finden.

Bei Blau-Weiss Buchholz wussten Cheftrainerin Franziska Becker und ihr Trainerteam, dass sie mit der neuen, modernen Choreographie ein großes Wagnis eingehen würden. Haben sie bei ihrem ehrgeizigen Angriff aus das Establishment vielleicht etwas zu viel gewagt?

Nein, das kann man nicht sagen, wirklich nicht.

Halten Sie es trotzdem für möglich, dass die Buchholzer als Gastgeber bei der deutschen Meisterschaft im November 2019 mit einer neuen Choreographie antreten werden?

Davon gehe ich aus.