Jürgen und Johanna Stuhtmann erleben den EM-Silberritt von Ingrid Klimke live in Malmö mit. Auf dem Hof der Züchterfamilie in Winsen-Bahlburg wurde das Vielseitigkeitspferd am 28. April 2004 geboren.

Winsen. „Das erste, was einem auffällt und was man ganz tief in sich spürt, wenn man ihr zusieht und sie mit den Augen verfolgt, ist diese Eleganz, dieser stolze Ausdruck. Die Leichtigkeit und Losgelöstheit in all ihren Bewegungen. Dabei sieht sie alles, registriert alles und strahlt dieses natürliche Selbstbewusstsein aus.“ Wenn ein Mann so von einem Pferd erzählt, dann darf man das als eine besondere Liebeserklärung werten. Jürgen Stuhtmann, gewichtiger Nachkomme eines Geschlechts von Pferdezüchtern und Pferdenarren, und „seine“ Escada – das ist eine der ungewöhnlichen Beziehungsgeschichten im Pferdesport, die im Glanze sportlicher Erfolge meist im Hintergrund bleiben.

Ausbilder Andreas Brandt aus Wismar hat einen großen Anteil am Erfolg

Bei der Europameisterschaft der Vielseitigkeitsreiter in Malmö verteidigte Michael Jung im Einzel und mit der Mannschaft erfolgreich die Goldmedaille, die er vor zwei Jahren in Luhmühlen gewonnen hatte. Die Erfolge des „Gold-Michi“ aus Horb haben schon einen Beiklang von Selbstverständlichkeit. Für die Überraschung im deutschen Team aber hat Ingrid Klimke gesorgt. Sie eroberte sich in den dramatischen Schlussminuten der Dreitageprüfung noch die Silbermedaille. Und sie führte damit FRH Escada, das neunjährige Nachwuchspferd aus dem Winsener Stadtteil Bahlburg, in den Pferdeadel des internationalen Vielseitigkeitssports ein.

Als im Springparcours in Malmö die Entscheidung fiel, rückten wenige Meter entfernt auf der Tribüne drei Menschen eng zusammen, zitterten und hofften und wurden für kurze Augenblicke ganz still in ihrem Glück. Wie Birgit und Jürgen Stuhtmann und ihre Tochter Johanna mitten im Luhmühlener Fanblock den Ritt von Ingrid Klimke und Escada erlebten? „Es war kalt geworden an der schwedischen Küste und die Sturmböen hatten beim Ritt von Andreas Dibowski sogar ein Hindernis umgeweht. Ingrid ritt als Viertletzte, denn sie lag nach Dressur und Gelände auf dem vierten Platz. Wir wussten, dass Escada sich vom Sturm nicht nervös machen lässt. Sie kennt solches Wetter aus Bahlburg. Ingrid Klimke kann sich längst darauf verlassen, dass Escada im Springen eine Bank ist.“

Am Ende war Klimke die einzige in der Spitzengruppe, die ohne Springfehler blieb. Als nach ihr der Schwede Ludwig Svennerstal gleich zwei Hindernisse mitnahm, sind die Emotionen der Stuhtmanns auf der Tribüne das erste Mal „Achterbahn gefahren“, wie der Vater schildert. Ingrid Klimke mit Escada hatte nun Bronze sicher. Der Brite William Fox-Pit lag noch vor ihr. Dann fielen auch seine Stangen. Jubel im Luhmühlener Block. Ingrid Klimke hatte Silber im Einzel und Gold mit der Mannschaft. Der Führende Michael Jung leistete sich zwar einen Abwurf am ersten Hindernis, sein Vorsprung war aber groß genug. Und Ingrid Klimke, die Überglückliche, ließ die Freunde der Vielseitigkeit und des Pferdesports in aller Welt wissen: „Escada ist sehr mutig. Sie hat im Gelände alle Aufgaben spitze gemeistert. Ein Geschenk, so ein Ausnahmepferd zu reiten“, sagte sie.

Es war am 28. April 2004, da halfen auf dem Familienhof in Bahlburg Mutter Erika Stuhtmann und ihre Tochter dem Fohlen auf die Welt. Und mit Wohlwollen und Freude sah die Züchterfamilie das neugierige und selbstbewusste Pferdemädchen heranwachsen. Escada war sechs Monate alt, da wurde sie bei der Fohlenschau in Luhmühlen das erste Mal in ihrem Leben ausgezeichnet. In ihrer Freude schenkte das Züchterehepaar den hoffnungsvollen Pferdenachwuchs der Tochter. Johanna war schon dreimal deutsche Meisterin der Jungzüchter. Wie wertvoll die Geste der Eltern werden würde, konnte damals niemand ahnen.

Als Escada dreieinhalb Jahre alt war, war Schluss mit dem unbekümmerten Herumtoben auf den heimatlichen Wiesen. Sie kam zu Andreas Brandt nach Wismar in die Ausbildung. Wie vorteilhaft das für die sportliche Karriere der hochtalentierten Stute war, hat Ingrid Klimke in Malmö mit ihrer herzlichen Art unterstrichen. Per SMS sandte sie dem Ausbilder mit dem Feingefühl für junge Pferde ein Dankeschön. „Im Winter“, erzählt Jürgen Stuhtmann, „haben wir sie immer nach Hause geholt. Da durfte sie wieder auf den Wiesen herumtoben.“ Mit fünf Jahren wurde Escada Zweite beim Bundes-championat, mit sieben Vize-Weltmeisterin bei den jungen Pferden. Seit Januar 2011 ist sie nun in der Obhut von Ingrid Klimke, die aber nicht Besitzerin ist. Das ist bei Weltklassepferden so üblich.

Was jetzt das Verdienst der Züchterfamilie ist, bei einer solchen Frage an Jürgen Stuhtmann muss man vorsichtig sein. Die Antwort könnte eine lange Nacht dauern. „Auch wenn in der Zucht immer die Namen der Hengste festgeschrieben werden“, erläutert der Winsener Züchter seine Grundprinzipien, „entscheidender ist die Linie der Mütter. Deshalb nehmen wir Stuhtmanns für die Zucht nur solche Stuten, die selbst im Sport stolze Erfolge vorzuweisen haben.“

Lehnsherrin, die Mutter von Escada, gehörte dazu. Und deren Voll-Schwester, wie es in der Pferdezucht heißt, und der Voll-Bruder waren sehr erfolgreich im Reitsport. Escadas Vater heißt Embassy, in der Erbfolge kommen danach Lehnsherr und Cardinal XX. Das Doppel-X steht für einen reinen Vollblüter. „Als Züchter“, sagt Stuhtmann, „muss man in Generationen denken. Und man muss Glück haben. Dann kann man – wie wir in Malmö – Augenblicke durchleben, die so tief und so schön und so nachhaltig sind, dass man sie nicht in Worte fassen kann. So etwas bleibt im Leben unvergessen.“