Immer wieder werden in Hamburg Kindergräber geschändet. Für die Familien ist das nur schwer zu ertragen. Wie Betroffene damit umgehen.

Der Weg von der Kapelle bis zum Grab von Matheo ist wunderschön. Er führt bergab und bergauf am Streuobsthain vorbei und den uralten Eichen. Wiesen haben sich wie grüne Picknickdecken auf die Hügel gelegt, die meterhohen Tannen rauschen im Wind. Es geht vorbei an den großen Familiengräbern und bemoosten Engeln, Efeuranken säumen den Weg. Und dann, am Ende des Hügels, ist man endlich da.

Anna Lind hat auf diesem Weg alles gesehen.

Sie hat Hunde gesehen, die an die Grabsteine urinieren oder gleich ihr Geschäft dort hinterlassen, die auf den Wiesen zwischen den Gräbern frei herumtoben. Und sie hat Spielzeuge verschwinden sehen, die trauernde Eltern auf die Gräber ihrer Kinder gelegt haben. Immer wieder.

Grabschändungen: „Erst dachten wir an kleine Kinder“

„Erst dachten wir, dass das vielleicht kleine Kinder der Eltern waren, die auch ein Grab besuchen, die das einfach eingesteckt haben in einem unbeobachteten Moment“, sagt Anna Lind (Name von der Redaktion geändert) und drückt den Kragen ihrer Winterjacke ein wenig enger an den Hals. Es ist Mitte März, Regenschauer ziehen über den Süden Hamburgs. „Aber dann ist auch ein Kuscheltier verschwunden, das wir auf das Grab gelegt hatten, das uns in der Familie viel bedeutet“, erzählt die 27-Jährige, während sie über den Friedhof geht. Feine Regentropfen legen sich auf ihr Gesicht. „Also haben wir das Kuscheltier noch einmal besorgt und in ein Vogelhäuschen gelegt, damit es besser geschützt ist. Aber auch das war am nächsten Tag weg.“

Über Menschen, denen nicht einmal ein Kinderfriedhof mehr heilig ist

Anna Lind hat kaum Worte, um das zu beschreiben, was sie fühlt, wenn sie an die Diebstähle denkt. Und was soll man auch sagen über Menschen, denen nicht einmal ein Kinderfriedhof mehr heilig ist.

Kinderfriedhöfe sind besondere Orte. Nicht nur für die Eltern, die ein Leben begraben, das sie sich so anders vorgestellt hatten. Auch für Mütter noch lebender Kinder kann ein Besuch auf dem Friedhof wichtig sein – zum Beispiel, um sich mit einer lebensverkürzenden Diagnose auseinanderzusetzen. Um sich vorzubereiten auf das, was im Grunde nicht vorstellbar ist. Die Trauer um ein Kind ist ein Prozess, der ein ganzes Leben lang dauern kann, selbst wenn dieses Leben nur wenige Minuten lang war.

Anna Lind steht vor Matheos Grab – und lächelt

Matheos Ruheort liegt leicht versteckt hinter meterhohen Tannen, wie hagere Wächter haben sich die Bäume mit hängenden Armen um die Gräber der Kinder versammelt. Zehn, vielleicht zwölf haben hier ihre letzte Ruhe gefunden, und wer an ihren Gräbern entlanggeht, wird kaum um den Schmerz herumkommen, den man beim Anblick der kleinen Parzellen in sich hochsteigen spürt, so liebevoll sind sie dekoriert. Mit Spielzeugautos, Bügelperlenbildern und selbst bemalten Steinen, mit Engeln und sogar Kinderbüchern. Auf einem Grab steht ein Spielzeugbagger und trägt zwei Dosen Seifenblasen auf seiner Schaufel. Anna Lind steht vor Matheos Grab – und lächelt.

Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie sich im März 2022 für diese Stelle auf dem Neuen Harburger Friedhof entschieden. Es war keine leichte Entscheidung – aber eine bewusste. Anfangs, erzählt Anna Lind, sei sie gegen ein „richtiges“ Grab gewesen. „Einfach auch aus der Hoffnung heraus, eines Tages damit abschließen zu können und dann eben nicht die Verpflichtung zu haben, ständig herkommen zu müssen.“ Doch keiner der anderen Orte, keiner der anderen Friedhöfe fühlte sich so an wie der kleine Pfad unter den Tannen: irgendwie richtig.

Der Ort der größten Verletzlichkeit ist nicht mehr geschützt

Und nun ist es ausgerechnet dieser Ort, diese Verortung der größten eigenen Verletzlichkeit, der in Hamburg nicht mehr ausreichend geschützt scheint. Matheos Vater war es, der sich mit anderen Eltern austauschte und herausfand, dass von mehreren Gräbern Spielsachen verschwunden waren. Von der Friedhofsverwaltung heißt es, dass keine Fälle bekannt seien – und das viel größere Pro­blem ohnehin der ganze Elektroschrott sei, der inzwischen auf den Gräbern zurückgelassen werde. Doch wer sich in Hamburg umhört, erfährt von weiteren Fällen – so wie auf dem Friedhof Groß Flottbek.

Auch hier sind die Kindergräber regelmäßig von Diebstählen betroffen. „Spielzeug, Grabvasen, Blumensträuße“, zählt Anna Rühmann am Telefon auf. „Manchmal werden ganze Pflanzen ausgegraben, da sieht man dann nur noch ein Loch. Bei den Pfingstrosen kann es passieren, dass die nach der Pflanzung am nächsten Tag direkt abgeschnitten sind.“

„Vielen Menschen fehlt es an Respekt und Verständnis“

Es ist ein Verhalten, das sprachlos macht. Und das doch nicht ganz unerwartet kommt. Hundehaufen oder Urinflecken auf Grabsteinen kennen sie in Groß Flottbek auch. „Wir haben hier gerade den Eindruck, dass es einfach grundsätzlich bei sehr vielen Menschen an Respekt und an Verständnis fehlt, was diesen Ort zu einem besonderen macht, an dem man zum Beispiel dann auch nicht klaut.“ Um nicht länger allein mit dem Problem zu sein, hat die Friedhofsverwaltung die zuständige Polizeiwache informiert, seitdem gehen Beamte in Zivil regelmäßig am „Ort der unvergessenen Kinder“ vorbei, wie das Grabfeld auf dem Groß Flottbeker Friedhof heißt.

Das Grab von Matheo auf dem Neuen Harburger Friedhof
Das Grab von Matheo auf dem Neuen Harburger Friedhof © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Auch die Friedhofsverwaltung hat ein Auge auf die Gräber. Jemanden anzusprechen sei trotzdem immer so eine Sache. „Man geht ja zunächst immer davon aus, dass es Angehörige sind, die sich da gerade um eine Grabstelle kümmern“, sagt Anna Rühmann. „Aber wir stellen auch fest, dass diese Menschen sich tarnen, einen Eimer mit Gartengeräten dabeihaben und so tun, als gehörten sie dazu.“

Diebstahl auf Friedhöfen: Konflikte der Grabnutzer ein Problem

Etliche andere Themen kommen in den Gesprächen mit den Friedhofsverwaltern hoch. Matthias Habel erzählt, dass es auf dem Rahlstedter Friedhof immer wieder auch zu Unstimmigkeiten zwischen den Grabnutzern komme: „Da prallen einfach verschiedene Vorstellungen des Trauerns aufeinander, einem älteren Grabnutzer ist der Schmuck auf einem Kindergrab manchmal zu viel – das viele bunte Spielzeug und die Windräder“, sagt der Friedhofsleiter. Diebstähle gebe es vereinzelt, das größere Problem seien allerdings die Konflikte der Grabnutzer untereinander.

„Als Friedhof sind wir da in einer Situation, in der wir nur verlieren können – weil wir es ja nicht allen recht machen können“, sagt Habel. „Bei den Kindergräbern vertreten wir die Linie, dass wir den Schmuck so lange tolerieren, wie sich andere Grabnutzer nicht gestört fühlen. Sollte dies aber der Fall sein, müssen wir den Eltern schonend beibringen, dass es Menschen gibt, die das nicht möchten.“

Manchmal habe Habel den Eindruck, dass der Friedhof dabei Konflikte lösen soll, den man früher an anderer Stelle ausgetragen hätte. Könnte es sein, dass Hamburg das Zusammenleben auf seinen Friedhöfen verlernt hat?

Es ist Ende März, und in Marmstorf liegt der erste Hauch von Frühling in der Luft. Anna Lind hat einen Eimer mit frischer Erde dabei, Harke und Schaufel. Gerade hat sie die Tannenzweige entsorgt, die das Grab ihres Sohnes den Winter über vor Frost beschützt haben.

Auf Matheos Grab ist es nun bunt, frisch gepflanzte Primeln und Osterglocken leuchten in den Nachmittag. Anna Lind ist nach der Arbeit vorbeigekommen, so wie sie es oft macht unter der Woche. Vor wenigen Tagen hat sich Matheos Todestag zum ersten Mal gejährt. Ihre Hände sind noch voller Erde, am Wasserbecken bei den Gräbern wäscht sie ihre Finger, nur unter den Nägeln bleibt noch ein schwarzer Rand.

Zweieinhalb Jahre war Matheos große Schwester alt, als ihr Bruder starb

11. März 2022. Es ist ein einziges Datum, das auf Matheos Grabstein steht. Der Tag seiner Geburt war auch der Tag, an dem er starb. Anna Lind lächelt und blickt auf die Primeln zu ihren Füßen. Am Ende des kleinen, von Kindergräbern gesäumten Weges steht eine bunt lackierte Bank. „Was man am Anfang ja doch mit einem ziemlich schrecklichen Ort verbunden hat, nimmt man inzwischen gar nicht mehr so war. Es ist eher ein Ort der Stille, wo man zwischendurch einmal zur Ruhe kommt. Wo man auch wenigstens noch was für ihn machen kann.“

Als sie aufwacht, sagt ihr Mann: „Du kannst dich jetzt verabschieden“

Es war in der 32. Schwangerschaftswoche, als sich bei Anna Lind vorzeitig die Plazenta ablöste. Dass die 27-Jährige heute am Leben ist, ist nicht selbstverständlich angesichts der Mengen an Blut, die sie dabei verlor. Matheo überlebte nicht, sosehr die Ärzte nach dem Notkaiserschnitt auch um sein Leben kämpften. Anna Linds Erinnerungen an die Nacht sind lückenhaft, nicht immer war sie bei Bewusstsein. Eine Szene hat sie noch heute klar vor Augen. Wie ihr Mann mit Matheo im Arm neben ihr stand und sagte: „Du kannst dich jetzt verabschieden.“

Zwei Tage später verließ Anna Lind das Krankenhaus, auf eigenen Wunsch. „Für mich war schnell klar, dass es weitergehen muss, vor allem meiner Tochter zuliebe“, erzählt sie. Zweieinhalb Jahre war Ma­theos große Schwester alt, als ihr Bruder starb. „Unter unserer Trauer sollte sie nicht leiden müssen.“ Was bedeutete, dass für die Eltern manchmal nur wenige Minuten lagen zwischen Beerdigung planen, Friedhöfe anschauen, Termine in Bestattungsunternehmen machen und im Garten mit der Tochter spielen, als wäre nichts gewesen.

Auf die Frage, wie viel Kraft sie das gekostet hat, zieht Anna Lind die Schultern hoch und schaut vor sich hin, bevor sie einem wieder direkt in die Augen schaut, und man ahnt – es war unendlich viel.

Ihre Tochter weiß jetzt: Matheo ist ein kleiner Engel

„Meine Tochter wusste ja, dass etwas passiert war. Sie hatte sich darauf gefreut, große Schwester zu werden, und wir haben uns gesagt: Wir erklären so viel wie nötig, so wenig wie möglich. Also haben wir gesagt, dass ihr Bruder jetzt nicht mehr in meinem Bauch ist. Dass er zu klein war, zu früh aus Mamas Bauch wollte und dass er es nicht geschafft hat. Dass er jetzt ein kleiner Engel ist.“

Einmal war die Schwester bislang mit an Matheos Grab. „Mein Mann hat sich das sehr gewünscht, dass wir sie auch hier mit einbeziehen. Er hat ihr erklärt, dass das alles kleine Grundstücke sind und dass wir nur unseres schick machen“, erzählt sie. Schön sei das gewesen.

„Sie hat sich darüber gefreut, mithelfen zu können, sich alles angeschaut und am Ende noch Kastanien gesammelt. Für sie gab es keinerlei negative oder emotionale Verbindung zu diesem Ort, was sehr erfrischend war.“ Anna Lind blickt auf das Grab zu ihren Füßen. „Ich bin selbst überrascht, wie häufig ich hier bin, jetzt pflanze ich sogar Blumen“, sagt die junge Frau und lacht. Nur mit dem Kuscheltier werden sie und ihr Mann es erst einmal nicht mehr probieren.