Harburg. Harburger Schüler erforschen Biografien verfolgter Juden – und entdecken die Geschichte des ersten modernen Kaufhauses in Harburg.

Seit zehn Jahren gibt es den sogenannten „Geschichtomat“, einen digitalen Stadtplan zum jüdischen Leben in Hamburg. Fast 60 Schulen haben inzwischen daran teilgenommen. Mehr als 250 Videobeiträge sind entstanden, in denen Jugendliche ihren Besuch auf einem jüdischen Friedhof schildern, koschere Gummibärchen verkosten, sich mit den Biografien verfolgter Juden beschäftigen oder den Landesrabbiner interviewen. „Dabei erkunden die Jugendlichen ihre Nachbarschaft und lernen die jüdische Geschichte ihres Stadtteils kennen“, sagt Dr. Carmen Bisotti vom Projektbüro Geschichtomat.

Bereits zum fünften Mal war das Projekt jetzt zu Gast an der Goethe-Schule Harburg. Im Rahmen einer Projektwoche erforschten Schülerinnen und Schüler einer 9. Klasse ihre jüdische Nachbarschaft. Fünf Gruppen erarbeiteten unterschiedliche Themen. So erforschte eine Gruppe die Geschichte der ehemaligen Köhlbrand-Werft in Altenwerder.

In Youtube-Videos erzählen die Jugendlichen von ihren Erkenntnissen

Die Traditionswerft war im Nationalsozialismus „arisiert“ worden. Nach 1945 erkämpfte sich der ehemalige Besitzer Paul Berendsohn sein Unternehmen zurück. Hanno Billerbeck, Pastor an der Gedenkstätte Neuengamme, hat die Geschichte erforscht und unterstützte die Jugendlichen bei ihrer Arbeit. Entstanden ist ein YouTube-Video, das – ebenso wie die Ergebnisse der anderen Gruppen – über die Homepage www.geschichtomat.de angeschaut werden kann.

Eine Schülergruppe der Goethe-Schule begab sich auf Spurensuche jüdischen Lebens. Das Foto zeigt das Synagogen-Mahnmal  an der Ecke Eißendorfer Straße/Knoopstraße.  
Eine Schülergruppe der Goethe-Schule begab sich auf Spurensuche jüdischen Lebens. Das Foto zeigt das Synagogen-Mahnmal  an der Ecke Eißendorfer Straße/Knoopstraße.   © HA | Sabine Lepél

„Die Nationalsozialisten haben Paul Berendsohn alles genommen und er hat so gut wie keine Wiedergutmachung durch Deutschland erfahren“, sagt ein teilnehmender Schüler am Ende des Beitrags. „Wir hoffen, dass wir mit unserem Video auf sein Schicksal aufmerksam machen konnten. Denn man darf solche Geschichten nicht vergessen.“

Seit wann gibt es eigentlich eine jüdische Gemeinde in Harburg?

Eine andere Gruppe erhielt Unterstützung von Jens Brauer vom Archäologischen Museum. Das Museum hatte 2021 eine Ausstellung über „Orte jüdischen Lebens in Harburg“ gezeigt. Mit dieser Ausstellung sowie der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Harburg setzten sich die Jugendlichen auseinander. Dabei wollten sie wissen, seit wann es eigentlich eine jüdische Gemeinde in Harburg gibt, was zur Ansiedlung geführt hat und welche Orte heute noch an die wechselvolle jüdische Geschichte Harburgs erinnern.

Ein Besuch im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung stand für die dritte Schülergruppe an. Sie schauten sich dort den Nachlass des Künstlers, Kunstpädagogen und Publizisten Arie Goral-Sternheim an. Dieser kehrte nach 1945 aus dem Exil nach Hamburg zurück. Doch wie erging es ihm hier? Auf diese und weitere Fragen geben die Jugendlichen in ihrem Geschichtomat-Kurzfilm eine Antwort.

Martha Glass war Theresienstadt-Überlebende, auch über sie forschten die Kinder

Die vierte Gruppe befasste sich ebenfalls mit einer Exilantin: Martha Glass, gebürtige Hamburgerin und Theresienstadt-Überlebende. Sie hielt ihre Erlebnisse und Eindrücke in Tagebüchern fest, mit denen sich die Jugendlichen beschäftigten. Die fünfte Gruppe setzte sich mit dem weiten Feld der Remigration und im speziellen mit der jüdischen Remigration auseinander.

Unterstützt wurden die Jugendlichen bei ihrer Arbeit vom Geschichtomat-Team. Zwei Medienpädagoginnen brachten das gesamte benötigte Equipment wie Kameras, Schnittrechner und Mikrofone mit und vermittelten den Jugendlichen das Drehen, Schneiden, Fotografieren sowie die gesamte technische Umsetzung.

Die Goethe-Schülerinnen steckten plötzlich mittendrin in den dramatischen Lebenswegen

Auf diese Weise ist auch der Beitrag von Meryam Zidoun und Maya Bou Hassoun für den Geschichtomaten entstanden, in dem sie die Geschichte der Harburger Familie Horwitz erkunden, deren Name durch das ehemaligen Warenhaus Horwitz & Co. bekannt ist. Das mehrstöckige Gebäude mit Fahrstuhl bis unter das Dach war das erste moderne Kaufhaus in Harburg und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Riesenattraktion.

Das Warenhaus Horwitz & Co. gründete Cillys Großvater Bernhard Horwitz Ende des 19. Jahrhunderts in Harburg.
Das Warenhaus Horwitz & Co. gründete Cillys Großvater Bernhard Horwitz Ende des 19. Jahrhunderts in Harburg. © Frei | Frei

Im Zuge ihrer Forschungen erkannten die Schülerinnen schnell, welch tiefgreifende Folgen die Machtübernahme der Nazis im Januar 1933 für die jüdische Familie Horwitz mit sich brachte: Sie verlor alles. Und die Goethe-Schülerinnen steckten plötzlich mittendrin in den dramatischen Lebenswegen der Familienmitglieder.

Als Kind wurde Cilly Horwitz mit dem ersten Hamburger Kindertransport nach Großbritannien geschickt

Denn mit der Fertigstellung ihres Beitrags über die Familie Horwitz, den sie aus dem Blickwinkel der Tochter Cilly Horwitz erzählen, mussten sie erfahren, dass ihre Zeitzeugin in einem englischen Pflegeheim für immer die Augen geschlossen hatte. So wurde aus der Kopie des Films, den die Schülerinnen ihrer „Hauptdarstellerin“ auf dem Postweg zustellen wollten, für immer ein bewegender Nachruf.

Als Kind wurde Cilly Horwitz im Jahr 1938 ohne ihre Eltern mit dem ersten Hamburger Kindertransport nach Großbritannien geschickt, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr sie, dass ihr Vater deportiert worden und in einem Lager in Minsk gestorben war. „Nachdem sie sich so emotional mit Cillys Geschichte befasst hatten, löste die Nachricht von ihrem Tod bei den Schülerinnen tiefe Bestürzung aus“, sagt Lehrerin Annette Sommer. Dadurch wurde aber erneut deutlich, wie wichtig Auseinandersetzung und Information über Juden-Verfolgung und den Holocaust durch neue Herangehensweisen wie dem Geschichtomat-Projekt sind. Denn Zeitzeugen stehen für die Weitergabe ihrer Geschichte immer weniger zur Verfügung.