Harburg. Nach dem Krieg lebten viele Familien zwischen Schlachtbetrieb und Ausbesserungswerk. Heute entsteht doch ein Technologiepark

„Die Schlachthofstraße war früher Ausland für die Harburger.“ Das sagt jemand, der dort seine Kindheit und Jugend verbracht hat: Jürgen Meyer (77) gehört zu den gut 30 Kindern, die in einem kleinen Wohngebiet am nördlichen Ende der Straße aufgewachsen sind.

Dort, wo heute Peter Henseleit mit seinem Abschleppdienst seinen Sitz hat. Die parallel zu den Fernbahngleisen verlaufende Straße ist als Standort des ehemaligen Bundesbahn-Ausbesserungswerks bekannt, in deren Hallen heute ein Baumarkt residiert. Bekannt auch für den Elbcampus der Handwerkskammer und vielleicht auch für den Schlachthof. Als Wohnstraße jedoch nicht.

Die Menschen bewohnten alte Fabrikgebäude

„Für uns war das damals ein einziger großer Abenteuerspielplatz“, sagt Meyer, dessen Familie von 1950 bis 1969 in der kleinen Arbeitersiedlung an der Ecke Schlachthofstraße/Neuländer Straße wohnte. „Wir haben auf den Brachflächen Völkerball und Fußball gespielt, alte Patronen aufgebohrt und uns über die entstehenden Stichflammen gefreut, haben auf dem Deponiehügel der ehemaligen Norddeutschen Chemischen Fabrik Osterfeuer-Feste gefeiert und sind dort und von einem zugeschütteten Bunker auf der anderen Seite der Neuländer Straße Schlitten gefahren.“

Zwei Arbeiter reparieren im Ausbesserungswerk der Bundesbahn Radsätze (Aufnahme aus den 1960er Jahren). Der rechte ist der Vater Werner von Jürgen Meyer.
Zwei Arbeiter reparieren im Ausbesserungswerk der Bundesbahn Radsätze (Aufnahme aus den 1960er Jahren). Der rechte ist der Vater Werner von Jürgen Meyer. © Geschichtswerkstatt Harburg | Jürgen Meyer

Die Menschen wohnten in den alten Gebäuden der Chemiefabrik, in beengten Verhältnissen. Seine Clique habe zunächst aus vier Jungs und drei Mädchen bestanden, sei dann mit der Zeit größer geworden, sagt Meyer. „Wir waren immer Freunde; die Jungs haben sogar noch zusammengearbeitet. Bei der Firma Steinbrecher, im Fernmeldebau.“ Lange Zeit war dann Sendepause. Bis die Idee entstand, die „Schlachthofstraßenkinder“, wie sie sich selbst nennen, im Rahmen der Geschichtswerkstatt Harburg wieder zusammenzubringen. Acht, neun Leute seien zusammengekommen und haben sich 2018 erstmals getroffen. „Das war super“, sagt Meyer. 2019 folgte ein zweites Treffen.

Inzwischen ist die ehemalige Kinderschar auf 13 Köpfe angewachsen – „erst einer von uns ist gestorben, und ein Mädchen haben wir nicht wiedergefunden“, so Meyer. Alle leben noch in Harburg und Umgebung. 2020 verhinderte Corona eine erneute Zusammenkunft, und auch das für Freitag geplante Treffen wurde wegen der gestiegenen Inzidenzzahlen wieder abgesagt. Nun sitzt der Zeitzeuge stattdessen mit Vorstandsmitglied Klaus Barnick in der Geschichtswerkstatt und sichtet Unterlagen. Die beiden Männer planen eine Broschüre über die Geschichte der Schlachthofstraße. Heute ist die Straße von den unter Denkmalschutz stehenden Hallen des ehemaligen Ausbesserungswerks und von neuen Unternehmensansiedlungen geprägt.

Inzwischen siedeln sich Hightech-Unternehmen an

Der östliche  Bereich gehört zum Innovationspark Harburg.
Der östliche Bereich gehört zum Innovationspark Harburg. © BWI

Unweit des Standorts des ehemaligen Schlachthofs bietet der Elbcampus der Handwerkskammer heute Weiterbildung und Meisterkurse an. Verbraucher können sich im Energiebauzentrum rund um klimaschonende Haustechnik informieren. Einen Steinwurf entfernt hat sich das Hightech-Unternehmen Garz & Fricke angesiedelt. Daneben hat die Harburg Freudenberger Maschinenbau GmbH ihren Hauptsitz errichtet. Zusammen mit weiteren Unternehmen sollen sie einen Forschungs- und Innovationspark bilden, als östlicher Teil des Konzepts vom Innovationspark Harburg.

Vor gut 120 Jahren begann alles deutlich grobschlächtiger. „Als erstes entstand 1885 das Ausbesserungswerk der Bahn, der Schlachthof kam erst 1893“, sagt Barnick. Die ständig wachsenden Bahn-Werkstätten nahmen allmählich die gesamte Fläche zwischen den Gleisen und der Schlachthofstraße ein; schon wenige Jahrzehnte nach der Gründung waren hier um die 1400 Arbeiter im Einsatz. Zu den Reparaturhallen gehörten eine Schmiede, eine Dreherei, eine Wasserstation, eine Kesselschmiede, Lackiererei und ein Lokomotivschuppen.

Markanter Rundbau der Eisenbahner wurde abgerissen

Ein markanter Rundbau der Eisenbahner an der Ecke zur Neuländer Straße wurde nach dem Krieg abgerissen. Dort entstand der Großhandelsmarkt Selgros/Fegro. Ende Januar 2015 schloss er und diente einige Monate später als Flüchtlingsunterkunft. Und im Sommer 2017 während des entgleisten G20-Gipfels als Gefangenen-Sammelstelle sowie als Außenstelle des Amtsgerichts. Barnick weiß: „Noch sehr lange war der Stacheldraht am Zaun, inzwischen ist er weg.“

425 Festgenommene sahen die Sammelstelle von innen. Das ehemalige kleine Wohngebiet genau gegenüber war zu diesem Zeitpunkt längst Geschichte. Als erste zog 1969 Jürgen Meyers Familie fort. Nach und nach leerten sich die Wohngebäude. Um 1970 herum wurden einige der Häuser abgerissen, weil sie dem Ausbau der Neuländer Straße im Weg standen. 1973 musste der Schlachthof schließen. Er war unrentabel geworden. Anfang der 1990er Jahre folgte das Ausbesserungswerk.

Die Harburger Eisenbahngeschichte begann im Binnenhafen

  • Der erste Bahnhof stand zwischen dem Schellerdamm und dem Östlichen Bahnhofskanal im Binnenhafen. 1840 war der Anschluss Harburgs an das Hannoversche Streckennetz beschlossen worden, 1847 erreichte der erste Zug den gerade fertiggestellten Kopfbahnhof. Er wurde zum Rückgrat des Güterumschlags und der Entwicklung des Hafens. Auf dem Gelände gab es auch ein Ausbesserungswerk.
  • Die Eisenbahnbrücke über die Süderelbe, 1873 fertiggestellt, knüpfte die Verbindung nach Hamburg. In der Folge verlor der Harburger Bahnhof seine große Bedeutung im Güterumschlag und die Funktion als Personenbahnhof. Ein neuer Bahnhof an der Strecke nach Hamburg ging 1897 in Betrieb.
  • Parallel zur Strecke verlagerte sich das Ausbesserungswerk nach Osten, an die Schlachthofstraße. Nach der Stilllegung begann 1991 die Suche nach einem Investor, der die denkmalgeschützten Hallen weiter nutzen will. Die Lösung kam etwa zehn Jahre später: Die Hallen wurden für den Einzug des Bauhaus-Marktes saniert und hergerichtet. Am 1. Oktober 2007 öffnete der seine Tore.