Harburg. Andreas Timm-Giel kommt mit frischen Ideen an die TU in Harburg. Was ihn antreibt und was er als Hochschul-Präsident erreichen will.
Der Präsident der Technischen Universität Hamburg hat gewechselt, das Präsidentenbüro im dritten Stock auf dem „Gipfel“ des Harburger Schwarzenbergs ist dasselbe geblieben. Niemand würde verstehen, wenn er erst einmal Möbel einkaufe in Zeiten, in denen an der TUHH gespart werden müsse, sagt Andreas Timm-Giel. Mit den nicht ausgegebenen 10.000 Euro könne man besser studentische Hilfskräfte bezahlen, findet der neue Hochschulchef.
Im September übernahm Timm-Giel nach dem plötzlichen Weggang seines Vorgängers Ed Brinksma kommissarisch das Präsidentenamt. Nun wird er es offiziell ausfüllen und freut sich darauf, sich ganz und gar dem Fortkommen seiner TUHH widmen zu können. Mit dem Ziel, den politisch beschlossenen Wachstumskurs trotz knapper gewordener Mittel irgendwie umzusetzen.
Andreas Timm-Giel: Wohnsitz bei Bremen
Der gebürtige Harburger mit Wohnort Lilienthal bei Bremen ist ein Kommunikationsgenie. Er ist auch redegewandt, aber noch größere kommunikative Fähigkeiten entwickelt er seit Jahrzehnten im technischen Bereich. Als Leiter des Instituts für Kommunikationsnetze optimiert er zusammen mit Kollegen den Datenaustausch zwischen Schiffen, Fahr- und Flugzeugen, arbeitete auch schon an einem internationalen Satellitenprojekt. Er brennt für sein Forschungsgebiet, denn „es bringt uns gesellschaftlich weiter“.
Zu den Anwendungen, die Timm-Giel Anfang der 2000er-Jahre in einem Bremer Mobilfunk-Testfeld vorantrieb, gehört die Telemedizin, etwa eine ärztliche Beratung via Satellitenfunk bei einem schweren Krankheitsfall oder einer Unfallverletzung auf Schiffen. Kommunikationsnetze ermöglichen es Rettungswagen, schon vor der Ankunft erste Untersuchungsdaten des Notfallpatienten an das Krankenhaus zu übermitteln. Oder sie helfen Feuerwehrleuten, sich in einem Einsatz mit starker Rauchentwicklung zu verständigen, wenn Handzeichen nicht mehr weiterhelfen.
Forschung in Irland und New York
Fast bescheiden, aber mit viel Enthusiasmus erzählt Timm-Giel von seinen diversen Forschungsprojekten, oft in internationalen Teams. Die Internationalität und die enge Kooperation unter den Partnern haben ihm gefallen; er selbst forschte 2006 und 2007 einige Monate in Irland und New York, begleitet von seiner Frau und den beiden, damals noch sehr kleinen, Töchtern. An der TUHH arbeitete der angehende Hochschulchef mit Airbus und anderen Industriepartnern am Datentransfer zu und von Flugzeugen, als Student der Elektrotechnik an der Uni Bremen war er auf Schiffen unterwegs.
Damals galt es, den Seefunk zu digitalisieren und die Kommunikation mit Partnern an Land oder auf See zu verbessern. „Wir waren wohl weltweit die erste Gruppe, die satellitengestützte Videokonferenzen zwischen zwei Schiffen abhielt“, sagt der Informationstechniker. Das war neben der technischen auch eine körperliche Herausforderung für ihn. Wegen der Seekrankheit. „Ich habe Kabel gelötet“, sagt Timm-Giel. „Die Problemstellen lagen in der Verkabelung oder an den Anschlüssen, und beides befand sich unter Deck. Aber jeweils nach drei Tagen wurde es mit der Seekrankheit besser.“
Corona erforderte viel Improvisation
Seit Jahren hat der 53-Jährige festen Boden unter den Füßen, zuletzt als Institutsleiter und als Vizepräsident der Technischen Universität. Im vierköpfigen Präsidium war er für die Forschung zuständig. Als er im Spätsommer gefragt wurde, ob er das Präsidentenamt zunächst kommissarisch übernehmen könne, habe er nicht lange gezögert, sagt der Familienmensch. Als Vizepräsident hatte er weiter in seinem Fachgebiet gearbeitet und war nebenbei im Hochschulmanagement engagiert. Das habe aber dazu geführt, dass er weder das eine noch das andere mit vollem Einsatz habe machen können.
Nach Ablauf seiner zweiten Vizepräsidenten-Amtszeit wollte er sich in diesem Jahr wieder voll der Forschung widmen. Es kam anders. Nun konzentriert sich der – nicht nur technische – Netzwerker voll auf die Entwicklung „seiner“ TUHH. Eine wichtige Frage laute: „Wie wollen wir in zehn Jahren ausbilden?“ Corona habe den Trend zum digitalen Lehren beschleunigt. Er und seine Professoren-Kollegen mussten zunächst viel improvisieren. Für die Video-Vorlesungen, die er am Wochenende zu Hause in Lilienthal aufnahm, diente eine an einer Gardinenstange aufgehängte grüne Wolldecke als Hintergrund. „Darauf kann ich gut das TUHH-Logo oder Folien zur Vorlesung einblenden – es muss ja nicht jeder mein Arbeitszimmer sehen.“
Forschen am Internet der Zukunft
Langfristig, ohne Corona, stellt Timm-Giel sich vor, dass die Vorlesungen weiterhin hauptsächlich als digitale Aufnahmen verfolgt werden. Vertiefende Gruppenarbeiten und Diskussionsrunden zu anstehenden technischen Aufgaben müssen dann aber auf dem Harburger Campus stattfinden – Wissenschaft lebe von Diskussionen. Für die gesamte Technische Universität möchte er „Rahmenbedingungen schaffen, die uns voranbringen, um Herausforderungen wie den Klimawandel, die Energiewende oder die alternde Gesellschaft zu bewältigen“. Hier seien technische Lösungen gefragt, an denen Wissenschaftler der TUHH seit Längerem schwerpunktmäßig arbeiten. Weitere, typisch Hamburger Schwerpunkte seien der Hafen, die Luftfahrt, neue Materialien, der 3-D-Druck.
Auch die Frage, wie das Internet der Zukunft geknüpft sein wird, bewegt ihn. Schließlich stammt das Netz aus den 1980er-Jahren und wurde von Universitäten entwickelt, die ihre Rechenzentren verknüpfen wollten. Kein Mensch ahnte damals, dass 40 Jahre später das Internet von Kindern bis Greisen genutzt und allgegenwärtig sein wird (sofern die Netzabdeckung ausreicht). Von der Almhütte bis zur afrikanischen Savanne. Es stelle sich die Frage, wie man das Riesennetz mit all seinen mobilen Anwendungen in Zukunft managen könne.
Studium Elektrotechnik an Universität Bremen
Der neue Präsident kennt seine Technische Uni seit zehn Jahren. 2010 hat Timm-Giel, von der Universität Bremen kommend, eine Professur und die Institutsleitung übernommen. Damals hatte die TUHH 4500 Studierende, heute sind es fast 8000. Zuvor habe er sich in ganz Europa um eine Professur beworben – um dann an seinen Geburtsort zurückzukehren, sagt er lächelnd. So holt die Hansestadt Hamburg in seiner Vita allmählich den Bremer Vorsprung auf.
Der jedoch ist groß: Als Fünfjähriger kam Timm-Giel von der Zwischenstation Norderstedt nach Lilienthal. Nach dem Abi beschloss er, Elektrotechnik zu studieren, war sich aber nicht ganz sicher und hat deshalb den Studienort nicht gewechselt, sondern an der Universität Bremen studiert. Dort lernte er seine Frau kennen, dort promovierte er, wurde Gruppenleiter und arbeitete zwei außeruniversitäre Jahre am Aufbau des M2SAT-Satellitensystems.
Andreas Timm-Giel pendelt zwischen Bremen und Hamburg
Heute pendelt der doppelte Hanseat zwischen den beiden Städten. Denn seine eigene, private Zukunft sieht er weiterhin im Bremer Umland, wo seine Frau als Realschullehrerin Physik und Technik unterrichtet. Vor zehn Jahren überlegte die Familie, nach Hamburg umziehen. Doch der Schulwechsel seiner älteren, heute 18-jährigen Tochter sei zu schwierig gewesen. Sie ist „mehrfach eingeschränkt“, sagt der Vater und hadert mit dem Wort „behindert“. Die Wunschschule in Hamburg habe abgelehnt. Gleichzeitig sei in Lilienthal eine neue Schule gegründet worden, die sich Inklusion auf die Fahnen geschrieben habe. Also blieb die Familie im Bremer Vorort, wo die jüngere Tochter (15) das Gymnasium besucht.
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Der neue TUHH-Präsident fährt von Harburg eine Stunde nach Hause. Auf dem Weg müsse er nur viermal abbiegen, das sei auch nach harten Tagen zu schaffen, meint er. Und wenn es – jenseits von Corona – abends mal spät wird, habe eine Tante im Harburger Stadtteil Eißendorf ein Gästezimmer für ihn frei. Auf die Frage „Werder oder HSV?“ zuckt Timm-Giel nur die Schultern: „Ich interessiere mich nicht für Fußball. Das ist auch besser so. Denn an einem der beiden Orte liege ich sonst immer falsch.“
Familienausflüge zum Camping an der Küste
Seine ältere Tochter hat ihn Demut gelehrt. Wenn ein Familienmitglied mit starken Einschränkungen leben muss, nehme man nicht alles für selbstverständlich, freue sich über vermeintliche Kleinigkeiten und plane nicht fünf Jahre voraus. Durch die unklare Lebensperspektive der Tochter lebe er mehr in der Gegenwart – „das ist ja auch nicht verkehrt“, sagt der Vater. Und freut sich darüber, dass die aktuelle Pandemie wenigstens einen positiven Aspekt hat: Sie lässt ihm mehr Zeit für die Familie.
Mit seiner Tochter fährt er im Urlaub gern Tandem-Fahrrad und liebt das Campen mit der ganzen Familie. An verlängerten Wochenenden zu Himmelfahrt und Pfingsten geht‘s zum Zelten an eine norddeutsche Küste – oder wo es sonst noch schön ist.