Wilhelmsburg. 68 Jahre lang rollten auf der Wilhelmsburger Reichsstraße Autos zwischen Harburg und der City. Die Straße spaltete Wilhelmsburg.
Die Asphaltfräse kommt erst im Januar. Und doch hat das Verschwinden der Wilhelmsburger Reichsstraße jetzt schon begonnen. Die Betonmauer, die die Fahrspuren von einander trennte, liegt zertrümmert und zum Abtransport bereit auf Hunderten Metern verteilt. Hier und da weisen die Brocken wie einst bei der Berliner Mauer bunte Flecken auf: Sofort nach der Sperrung der Schnellstraße waren die Sprayer gekommen. Innerhalb weniger Wochen war die brusthohe Wand mit Graffiti bedeckt. Derzeit werden Lärmschutzwände und die Leitplanken demontiert und entsorgt.
Die Lärmschutzpaneele sind noch gar nicht so alt: Sie waren erst zur Internationalen Gartenschau (IGS) 2013 montiert worden. Jetzt sind sie Sondermüll. Das würde man eigentlich nicht denken, denn sie sind aus Holz hergestellt. „Aber das Holz hat sich mit Schadstoffen aus den Autoabgasen vollgesogen und es war schon vorher mit Schutzmitteln behandelt, die Fäulnis verhindern, jetzt aber Probleme machen“, sagt Jakub Oblocki, Projektleiter für den Rückbau der Reichsstraße bei der Internationalen Bauausstellung IBA: „Die Entsorgungsfirmen nehmen stolze Preise.“
Schnellstraße verschwindet nur langsam
Jakub Oblocki wird noch einige Jahre hier zu tun haben, denn die Schnellstraße verschwindet nur langsam. Zwar ist grundsätzlich klar, was an Stelle des 4200 mal 15 Meter großen Asphaltstücks entstehen soll, aber die Details sind noch nicht geplant.
„Im südlichen Abschnitt zwischen Mengestraße und Kornweide ist es relativ einfach“, sagt er. „Hier sollen der östliche und der westliche Teil des Inselparks zusammenwachsen. Aber auch hier müssen wir noch auf die Kampfmitteluntersuchung warten und dann muss die Bezirkspolitik entscheiden, ob wir den Straßendamm ganz abtragen sollen oder ob hier einzelne kleine Hügel als Landschaftselemente in den Park integriert werden.“
Am und auf dem nördlichen Abschnitt, zwischen Mengestraße und Honartsdeich sollen zwei neue Wohnquartiere entstehen, das Wilhelmsburger Rathausviertel mit 1600 Wohnungen und das Elbinselquartier mit 2100 Wohneinheiten. Diese sind aber noch in der Planungs- und Genehmigungsphase. „Wir werden, um Platz für diese Quartiere zu schaffen, nicht nur die Straße abreißen, sondern entlang der Straße auch Bäume fällen müssen“, sagt Oblocki. „Aber erstens wollen wir so viel Bäume wie möglich stehen lassen, weswegen wir die Bebauungspläne abwarten, und zweitens bekommen wir gar keine Vorgenehmigung zum Fällen, wenn die Bauanträge noch nicht vorliegen.“
Komplexe und sensible Abbruchkandidaten
Genug zu tun hat er auch ohne Baumfällungen: Im nördlichen Abschnitt ist die alte Reichsstraße quasi als Hochstraße auf einem bis zu 10 Meter hohen Damm geführt. Besonders die Brücken über die Rotenhäuser Straße und den Ernst-August-Kanal sind komplexe und sensible Abbruchkandidaten. Der Fußweg, der zwischen Bürgerhaus und Bahnhof parallel zur Mengestraße derzeit durch eine Unterführung verläuft, soll durchgängig begehbar bleiben. Oblocki muss sich wegen des Projekts also noch einiges Kopfzerbrechen machen. Auf dem südlichen Teil haben seine Leute jetzt erst einmal eine ebenerdige Querung der ehemaligen Kraftfahrstraße hergestellt. Das ist notwendig, weil demnächst die beiden Fußgängerbrücken, die „IGA-Brücke“ aus den 1970er-Jahren und die nur sechs Jahre alte IGS-Brücke, abgebaut werden. Die alte Wilhelmsburger Reichsstraße kann abgebaut werden, weil eine neue Straßenführung ihre Funktion übernimmt.
Möglich wurde dies, weil die Bahn, deren Strecke einen halben Kilometer weiter östlich parallel verläuft, die Flächen ihres ehemaligen Güterbahnhofs nicht mehr benötigte und frei geben konnte. Der Streifen zwischen Bahn und Schnellstraße war bis dahin nicht für Wohnungsbau oder Erholungszwecke geeignet und bildete im Inselstadtteil Wilhelmsburg eine zusätzliche Barriere.
Ein ganzer Quadratkilometer mehr Raum
Diese verschwindet nicht völlig, denn Bahnmagistrale und neue Reichsstraße haben immer noch eine gewisse Trennwirkung, aber die Stadt erobert sich im nördlichen Abschnitt tatsächlich einen ganzen Quadratkilometer Raum zurück und kann im Süden die beiden Inselparkhälften verbinden.
Schon der Bau der alten Reichsstraße hatte so einen Effekt für Wilhelmsburg gehabt. Zuvor war der inselquerende Kraftverkehr hauptsächlich über die Georg-Wilhelm-Straße abgewickelt worden, die damit wie eine Entwicklungsbarriere wirkte. Erst ab den 1950er-Jahren entstanden dann die Quartiere an der Zeidlerstraße und an anderen Stellen entlang des Assmannkanals.
Hamburgs Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeld freut sich über die Entwicklung: „Mit der Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße wird nun Realität, was schon vor knapp 20 Jahren in einer Zukunftswerkstatt vorgedacht und als wünschenswerte und gute Weiterentwicklung Wilhelmsburgs angesehen wurde. Hier werden in naher Zukunft urbane gemischt genutzte Quartiere entstehen.“