Hamburg. Am Mittwoch wollen Bürgermeister und Bahnvorstand die neue Trasse einweihen. Ein Kläger will das Projekt stoppen.
Der Hinweis für die Gäste steht auf der zweiten Seite der Einladung: „Festes Schuhwerk empfohlen.“ Der Senat bittet für Mittwoch zu einem Festakt auf Asphalt. Die neue Trasse der Wilhelmsburger Reichsstraße wird eröffnet. Um 16.45 Uhr sollen Bürgermeister Peter Tschentscher und Bahnvorstand Ronald Pofalla das obligatorische Band durchschneiden. Autofahrer können die 400 Meter weiter östlich gelegene Trasse allerdings erst ab Montag (5 Uhr) befahren, die Bauarbeiter nutzen das verlängerte Wochenende für letzte Arbeiten.
Wobei: Ganz sicher ist dies nicht. Denn ein Mitglied der Initiative „Engagierte Wilhelmsburger“, die seit Jahren den Bau der Trasse bekämpft, hat einen Eilantrag beim Hamburgischen Oberverwaltungsgericht eingereicht, um die Eröffnung zu stoppen. Der Kläger stützt seinen Antrag auf den aus seiner Sicht unzureichenden Lärmschutz entlang der Strecke. Zuerst hat die „Mopo“ darüber berichtet. Der Streit dreht sich um die Lärmschutzwände entlang der parallel zur neuen Schnellstraße verlaufenden Bahntrasse. Es sind noch nicht alle Wände auf der vorgesehenen Höhe errichtet worden, dies will die Bahn AG bis zum kommenden Frühjahr erledigen. Der Initiative ist das zu spät.
Behörde bleibt gelassen
Bei der Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation (BWVI) bleibt man gelassen: „Das Hamburgische Oberverwaltungsgericht hat bereits entschieden, dass es für die Klage nicht zuständig ist, sondern das Verwaltungsgericht“, sagt BWVI-Pressesprecher Christian Füldner. „Trotzdem wies das Oberverwaltungsgericht bereits darauf hin, dass alle im Planfeststellungsbeschluss enthaltenen Auflagen ordnungsgemäß erfüllt sind.“ Hintergrund: Die Lärmschutzwände an der neuen Straße stehen in der vorgeschriebenen Höhe, nur dies ist aus Behördensicht juristisch relevant – und eben nicht die Wände an der Bahnstrecke. Für die Initiative dagegen verbietet es sich, den Lärmschutz von Schiene und Trasse getrennt zu betrachten.
Das juristische Hickhack fügt sich trefflich ein in die Geschichte dieses Projekts. Kaum ein Straßenbau war derart langwierig und umstritten. Als das erste Mal intensiv über die 1951 eröffnete Wilhelmsburger Reichsstraße diskutiert wurde, regierte Ludwig Erhard die Republik, Hamburgs Bürgermeister hieß Paul Nevermann. Nach schweren Unfällen forderte die Harburger Bezirksversammlung 1964 „weitere Sicherheitsmaßnahmen“ und den „Bau einer getrennten Parallelstraße“. Die Verwaltung erklärte, dass man sich mit „verkehrslenkenden Maßnahmen“ wie der Sperrung für langsame Fahrzeuge behelfen müsse.
2009 demonstrierten 1500 Anwohner in Hexenkostümen
2008 nahmen die Diskussionen um eine Verlegung mit Blick auf die Internationale Gartenschau 2013 wieder Fahrt auf. Zugleich formierte sich der Protest. Im November 2009 demonstrierten 1500 Anwohner in Hexenkostümen gegen den geplanten Bau an der Bahntrasse. Mit Rufen wie „Heute vertreiben wir die Autobahnmonster“ zogen die Demonstranten weiter bis zum Wilhelmsburger Rathaus. Das Projekt verzögerte sich, erst im August 2013 stachen der damalige Bürgermeister Olaf Scholz sowie Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer Spaten in einen aufgeschütteten Sandhaufen – der symbolische Akt für den Baubeginn. Nebenan trugen Mitglieder der „Engagierten Wilhelmsburger“ die Pläne symbolisch zu Grabe.
Sechs Jahre und knapp 300 Millionen Euro später verlaufen die Frontlinien unverändert. Die Kritiker sehen das Projekt als Schritt zurück in eine überholte Verkehrspolitik – Ausbau des motorisierten Individualverkehrs statt des öffentlichen Nahverkehrs. Zudem gebe es „katastrophale Sicherheitsmängel“ durch die Bündelung von Gefahrguttransporten auf einer Doppeltrasse. Hannelore Gfattinger (69), Gründungsmitglied der „Engagierten Wilhelmsburger“ hält das Projekt weiter für einen Fehler: „Die neue Trasse wird viele Anwohner belasten, sie bindet zudem den Hafen nicht direkt an.“ Allerdings verlor die Initiative alle juristischen Verfahren.
Die alte Trasse wird zurückgebaut
Die Befürworter verweisen darauf, dass zwei Lärmquellen – Straße und Bahnstrecke – zu einer Trasse zusammengezogen werden; die neue Strecke verläuft direkt neben der Bahnlinie. „90 Prozent der Wilhelmsburger werden von der neuen Trasse profitieren“, sagt Verkehrsstaatsrat Andreas Rieckhof (SPD). Profitieren werde auch der Inselpark, der künftig nicht mehr von einer vierspurigen Straße durchschnitten wird. Über die Fertigstellung ist niemand glücklicher als Martin Steinkühler, der für die Deges (Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH) das Projekt leitete. In der Endphase hatte Steinkühler das Glück des Tüchtigen. Als der empfindliche offenporige Flüsterasphalt verlegt wurde, der den Lärm um fünf bis sechs Dezibel senken soll, herrschte gutes Wetter. „Etwas später hätten wir durch den Sturm ein echtes Problem gehabt“, sagt der Ingenieur.
Umso mehr hofft Steinkühler, dass das Verwaltungsgericht den Eilantrag zurückweisen wird. Die Aufträge für den Bau der Lärmschutzwände an der Bahnstrecke seien bereits vergeben. „Ich würde es nicht fair finden, wenn die vielen Menschen, die wir durch die neue Trasse entlasten, durch einen juristischen Winkelzug länger warten müssten.“ Für die Feier mit seinem Team hat Steinkühler eine Flasche Deichbruch-Schnaps zurückgelegt, das Geschenk eines Anwohners an der alten Trasse.
Diese wird nun zurückgebaut, in dem Gebiet will die städtische Stadtentwicklungsgesellschaft IBA Hamburg das Elbinselquartier mit 2100 Wohnungen sowie das Wilhelmsburger Rathausviertel mit 1600 Wohnungen schaffen. Ergänzt wird das Programm mit dem Spreehafenviertel im Norden Wilhelmsburgs (1100 Wohnungen).
Und noch jemanden macht die neue Trasse glücklich: Rudolf Schmidt (83) aus Seevetal. Viele Jahre hat der überzeugte Gewerkschafter dafür gekämpft, dass die neue Trasse einen neuen Namen erhält. Am Pfingstsonntag 1944 kauerte der damals Achtjährige im Bombenhagel neben seiner Mutter im Bunker, sie starb durch einen Splitter. Seinen Vater, einen Antifaschisten, steckte das Nazi-Regime ins KZ. Schmidt ist überzeugt, dass alte Nazi-Seilschaften dafür sorgten, dass die nach dem Krieg erbaute Straße den Namen Reichsstraße erhielt. Sein Wunsch geht nun in Erfüllung. Die neue Trasse firmiert künftig ganz schlicht als Kraftfahrstraße B 75. „Dafür bin ich sehr dankbar“, sagt Schmidt.