Gitti und Shabnam Ruhin spielten für Afghanistans Fußball-Nationalteam. In Wilhelmsburg setzen sich die Schwestern für Integration ein.

Als Kinder spielten Gitti und Shabnam Ruhin mit ihren Freunden Fußball auf der Straße in Neugraben. Doch mit einer echten Mannschaft trainieren? Das war undenkbar. „In unseren Kulturen machen die Frauen keinen Sport im Verein“, sagt Shabnam Ruhin. „Da wird eher der Sohn als die Tochter gepusht.“

Dass die beiden als Jugendliche dann doch einem ihrer Brüder zum ESV Einigkeit Wilhelmsburg folgten, war ein Schritt, der ihr Leben veränderte. Bis in die Nationalmannschaft Afghanistans, dem Heimatland ihrer Eltern, schafften es die Schwestern. Nun setzen sie sich dafür ein, Mädchen in Hamburg für Fußball zu begeistern und ihnen durch das gemeinsame Training womöglich ungeahnte Chancen aufzuzeigen.

Sport hat ihnen Türen geöffnet

Im Vereinshaus am Vogelhüttendeich erzählen die Schwestern bei einem Glas Tee von ihren Erfahrungen und Zielen. Vor dem Fenster prasselt der Regen auf den Rasenplatz, durch die Scheiben fällt mattes Licht. Am Tresen sitzt ein Vereinsveteran und steuert hin und wieder ein Lob auf „Einigkeit“ bei.

Der Sport habe ihr viele Türen geöffnet, sagt Shabnam Ruhin. „Als ich hier angefangen habe, wollte ich den Realschulabschluss machen.“ Im Team fand sie viele Freunde, gewann neue Motivation und erkannte, dass sie auch abseits des Platzes mehr schaffen kann, als sie bis dahin dachte. Heute steht die 27-Jährige kurz vor ihrem Uni-Abschluss in Medizintechnik an der HAW Hamburg. Shabnam Ruhin ist im Gespräch die Forschere der beiden. Ihre ein Jahr jüngere Schwester, die an der Uni Hamburg Jura studiert, lässt ihr beim Reden geduldig den Vortritt – um dann ebenso klar und deutlich ihre Sätze zu formulieren.

Bei der Südasienmeisterschaft ging es bis ins Halbfinale

Die Fußballerinnen, die in Neugraben aufwuchsen, als Teenager nach Wilhelmsburg kamen und vor kurzem mit ihrer Familie nach Marmstorf gezogen sind, spielen mit dem ESV Einigkeit in der Oberliga. Auf der Insel wurden sie auch von einem Scout entdeckt, der sie beide 2011 als Spielerinnen für das Nationalteam Afghanistans anwarb. Dort spielen Frauen erst seit wenigen Jahren auf internationalem Niveau. „Das Training war anfangs etwas holprig“, sagt Gitti Ruhin. „Aber als sehr professionelle Trainer aus Amerika kamen, ging es schlagartig bergauf.“ Mit der Mannschaft traten sie 2012 zum ersten Mal bei der Südasienmeisterschaft in Sri Lanka an und schafften es bis ins Halbfinale – ihr bislang größter sportlicher Erfolg.

Sprachrohr für die Frauen in Afghanistan

Die Reisen zum Training und zu den Spielen bedeuteten jedes Mal eine große Umstellung. „Die Situation in Afghanistan ist komplett anders als bei uns. Frauen wurden lange Zeit überhaupt nicht gefördert“, sagt Shabnam Ruhin. „Die Nationalmannschaft soll ein Sprachrohr für die Frauen in Afghanistan sein und ein Zeichen gegen die Männerdominanz im Fußball setzen.“

Was diese Dominanz bedeuten, aber auch welchen Erfolg die neue Stärke der Frauen haben kann, zeigt eine Nachricht aus den vergangenen Tagen: Der Vorsitzende der afghanischen Fußballföderation wurde von der FIFA lebenslang gesperrt. Der Verbandschef und mehrere Trainer sollen Spielerinnen sexuell belästigt und missbraucht haben. Die Vorwürfe hatten ehemalige Nationalspielerinnen öffentlich gemacht.

Die Fußballerinnen Shabnam (27, l.) und Gitti (26) Ruhin spielen beim ESV Einigkeit in Wilhelmsburg.
Die Fußballerinnen Shabnam (27, l.) und Gitti (26) Ruhin spielen beim ESV Einigkeit in Wilhelmsburg. © Lena Thiele | Lena Thiele

Auch die Ruhin-Schwestern hatten sich öffentlich dafür eingesetzt, dass die Fifa etwas gegen den Missbrauch unternimmt. „Das war für uns alle ein Erfolg und ein Signal an die Mädchen in Afghanistan, dass sie nicht vergessen werden“, sagt Gitti Ruhin. Nun müsse es darum gehen, Frauen auch in Zukunft zu schützen, betont ihre Schwester. „So etwas hat im Sport nichts zu suchen.“

Aus der Nationalmannschaft zurückgezogen

Die beiden Fußballerinnen haben sich nach Uneinigkeiten über einen neuen Vertrag im vergangenen Jahr aus der Nationalmannschaft zurückgezogen. Es ging um eine Kopftuchpflicht, aber auch um Vorgaben für den Umgang mit Medien. „Das hätte uns zu sehr eingeschränkt“, begründet Shabnam Ruhin die Entscheidung. Sie sind jedoch weiterhin mit einem inoffiziellen Team bei Benefiz-Turnieren unterwegs, wie vor Kurzem beim Global Goals World Cup in Kopenhagen. Die 27-Jährige hatte die Reise als Teamcoach genau geplant. „Wenn Shabnam etwas in die Hand nimmt, ist sie sehr organisiert und sorgfältig“, sagt Gitti Ruhin. „Wir können mit allen Fragen zu ihr kommen, das ist eine große Hilfe.“ Umgekehrt hilft sie ihrer älteren Schwester mit Ratschlägen, wenn diese in einer Sache nicht weiterkommt. „Meistens befolge ich ihren Rat“, sagt Shabnam Ruhin. „Sie gibt mir Sicherheit und es ist schön, dass ich immer mit ihr reden und mich hundertprozentig auf sie verlassen kann.“

Bei dem Wohltätigkeitsturnier trommeln die Mannschaften jeweils für eines von 17 sogenannten Global Goals. Diese Ziele für nachhaltige Entwicklung wurden ursprünglich von der UN formuliert. Die Schwestern aus Wilhelmsburg setzen sich für „Quality Education“ ein. Denn sie wollen zeigen, dass das gut zusammen geht.

Sport und Bildung können sich gegenseitig viel geben

„Sport und Bildung können sich gegenseitig viel geben“, sagt Gitti Ruhin. Deshalb haben sie auch einen Workshop entwickelt, in dem Schülerinnen sich damit auseinandersetzten, wie sie sportlich unterwegs sein können und zugleich auf eine gute Bildung achten. Mit Jugendlichen in Horn haben sie das Konzept bereits erfolgreich umgesetzt, weitere Schulen sollen in den kommenden Monaten folgen.

Die jungen Frauen haben ein gemeinsames Ziel: Chancengleichheit für alle Kinder. Mit ihrer eigenen Lebensgeschichte wollen sie Mädchen Mut machen, ebenfalls ihren Weg zu gehen. Dafür wollen sie mehr Eltern in Stadtteil davon überzeugen, ihre Töchter zum Fußballtraining gehen zu lassen.

„Warum sollten das Mädchen aus Wilhelmsburg nicht schaffen?“

Unterstützt werden sie vom Vereinsvorstand. „Hier auf der Insel dürfen die kleinen Mädchen kaum Fußball spielen, und es wird immer extremer“, sagt Ronald Jürgens, zweiter Vorsitzender des ESV Einigkeit. Er hofft, dass weitere Mädchen dem Beispiel der Ruhin-Schwestern folgen und die Chancen des Fußballs mutig und selbstbewusst nutzen. „Warum sollten das Mädchen aus Wilhelmsburg nicht schaffen? Wenn sie Erfolg haben, wird das auch die Väter stolz machen.“

Mindestens ebenso wichtig wie die Überzeugungsarbeit bei den Eltern sei es, den Mädchen Mut zu machen, sagt Gitti Ruhin. „Viele denken, sie könnten nicht Fußball spielen. Aber um sich zu Hause durchzusetzen, müssen sie erst einmal an sich selbst glauben.“ Ihr eigenes Selbstbewusstsein haben die beiden über Jahre trainiert, heute fällt es ihnen leicht, über sich, ihre Erfahrungen und Ziele zu sprechen. Auf dem Rasen posieren sie trotz Regens gut gelaunt fürs Foto, albern im Tor herum und spielen sich den Ball zu. Für ihre Teamkolleginnen ist es gerade Zeit fürs Training, aber das lassen die Schwestern an diesem Tag ausnahmsweise ausfallen.

Beide wollen demnächst selbst den Trainerschein machen

Beide wollen demnächst selbst den Trainerschein machen, um in Zukunft Mädchenmannschaften in Wilhelmsburg trainieren zu können. Hier, wo ihr Talent erkannt und gefördert wurde, wo sie selbst über sich hinaus gewachsen sind und immer Unterstützung im Team fanden. Sie wünschen sich, dass auch andere Mädchen aus dem Stadtteil von solchen Erfahrungen profitieren können.

Auch über Hamburg hinaus wollen die Schwestern etwas bewegen. Sie engagieren sich für die Initiative „Girl Power“, die die Managerin ihres internationalen Teams in Dänemark auf den Weg gebracht hat. Sie wollen die Initiative auch in Deutschland stark machen. Ziel ist es, Frauen mit Migrationshintergrund in den Sport zu bringen und Vorurteile auf beiden Seiten abzubauen. Integration gelinge vor allem durch Austausch, sagt Gitti Ruhin.

Es sei wichtig, dass Mädchen in Stadtteilen wie Wilhelmsburg mit einem hohen Migrantenanteil auch mal aus ihrem kulturellen Kreis heraus und mit anderen in Kontakt kommen. Vereinssport hat ihrer Meinung nach einen weiteren großen Vorteil: er fördert die Disziplin. „Das Leben ist geregelter, wenn man zum Training geht. Man lernt, sich an Regeln zu halten und Verantwortung zu übernehmen. Dann hast du einen Plan, nicht nur für den Tag, sondern für dein Leben.“

Selbstbewusstsein, Teamgeist, Verantwortung – es sind Begriffe wie diese, die die Schwestern wählen, wenn sie die Bedeutung des Fußballs für Mädchen wie sie in Worte fassen wollen. Im Verein könnten sie Freunde treffen, Spaß haben und zusammen etwas erreichen, sagt Gitti Ruhin. „Es ist ein tolles Gefühl, wenn man merkt: Diese Mädchen sind wie ich.“ Dieses Gefühl der Zugehörigkeit sei am wichtigsten, betont ihre Schwester. „Denn wir wollen gemeinsam gewinnen.“