Wilhelmsburg. Die letzten Gebäude der ältesten Fabrik Wilhelmsburgs werden abgerissen. Eine ehemalige Arbeiterin erinnert sich.

Bald wird nur noch der Straßenname „Bei der Wollkämmerei“ an die Fabrik erinnern, die 1889 die Industrialisierung Wilhelmsburgs einläutete. Die letzten Gebäude werden abgerissen, der Boden wird abgebaggert und planiert. Hier soll ein Logistikzentrum entstehen. Die Fabrik ist schon lange Geschichte. Die letzte Wolle wurde hier hier in der Spätschicht des 16. Februar 1962 verarbeitet. Mit der Sturmflut war das Aus der Fabrik besiegelt.

Eine, die Anfang der 1960er-Jahre noch hier gearbeitet hat, ist Karin Hadaschik, mittlerweile auch schon 74 Jahre alt. „Ostern 1960 war ich mit der Volksschule in Neuhof fertig“, sagt sie, „und im Sommer habe ich dann in der Wolle angefangen – wie viele Wilhelmsburger Mädchen.“

Karin Hadaschick hat in der Wilhelmsburger Wollkämmerei gearbeitet.
Karin Hadaschick hat in der Wilhelmsburger Wollkämmerei gearbeitet. © xl | Lars Hansen

Bis zu 2000 Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigte die Wollkämmerei zu ihren besten Zeiten – vor dem Krieg. Hier war die Schnittstelle zwischen Schäfern aus aller Welt und der mitteleuropäischen Textilindustrie. Als Hamburg Ende des 19. Jahrhunderts seinen Hafen massiv ausbaute, profitierte auch das Milchbauerndorf Wilhelmsburg davon: Die Leipziger Wollkämmerei errichtete hier eine Zweigstelle, um dort die Wolle aus Übersee zu verarbeiten und die Produkte daraus, von grobem Filz bis zu feinsten Kammgarnfäden möglichst weltweit weiterverkaufen zu können.

Die Wolle kam ballenweise aus Neuseeland, Indien und Südamerika direkt in den Reiherstieg. Zeitweise wurden die Ballen sogar per Seilbahn vom Kai in die Verarbeitung befördert, um den Verkehr auf der Deichstraße nicht zu stören.

„Zum Glück habe ich nie in der Sortierung gearbeitet“, sagt Karin Hadaschik. „Das war schlimm und schmutzig und sogar gefährlich.“

Die Wolle kam nämlich direkt vom Schaf in den Ballen, mit allem, was sich im Lauf der Zeit so im Fell festsetzt: Schmutz , Staub, Schafsködel, kleine Stacheldrahtstücke, grobe Holzsplitter, Tierchen. Es kam damals vor, dass sich Arbeiter in der Sortierung mit Milzbrand infizierten.

Von der Sortierung, bei der die gröbsten Teile ebenfalls entfernt wurden, ging es zum Waschen der Wolle. Auch das war kein allzu angenehmer Arbeitsplatz. Chlor gehörte noch zu den harmloseren Stoffen, mit denen die Tierhaare verarbeitungsreif gesäubert wurden. Erst dann begann das eigentliche Kämmen: Die Wolle wurde maschinell über Walzen mit feinen, nadelspitzen Zinken gezogen, wobei die kürzeren Fasern hängen blieben und nur die längeren weiterkamen. Am Ende waren nur noch die allerlängsten Fasern übrig und nur die taugten dazu, als Kammgarn aufgespult und an Tuchwebereien verkauft zu werden.

In der Arbeitersiedlung der Wilhelmsburger Wollkämmerei gab es immer Spielkameraden.
In der Arbeitersiedlung der Wilhelmsburger Wollkämmerei gab es immer Spielkameraden. © xl | Lars Hansen

Das war ein arbeitsintensiver Prozess und die Wollkämmerei war stets auf der Suche nach Arbeiterinnen und Arbeitern – auch, weil ihr nachgesagt wurde, schlecht zu zahlen. 1,38 D-Mark bekam Karin Hadaschik in der Stunde, mit Akkord 2,07 DM. Auf der Suche nach Arbeitskräften war die Wollkämmerei deshalb auch immer ein Motor der Immigration nach Wilhelmsburg und mit ein Grund dafür, dass Wilhelmsburg neben protestantischen auch katholische Traditionen hat.

In der Gründerzeit kamen die Wollkämmer aus Polen, zu Karin Hadaschiks Zeit in der „Wolle“ kamen die ersten Gastarbeiterinnen aus Italien. Karin Hadaschiks Mutter, ebenfalls in der Wolle beschäftigt schloss Freundschaften mit einigen italienischen Kolleginnen. „Eine junge Frau, sie hieß Maria, kam uns sogar regelmäßig in Neuhof besuchen. Wir waren so eine Art Familienanschluss für sie“, erinnert sich Karin Hadaschik.

Die meisten Italienerinnen und Italiener wohnten direkt bei der Fabrik, wo es eine Arbeitersiedlung gab, die bei Werksgründung gleich mit angelegt wurde. Was aus ihnen geworden ist, will die Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg nun noch einmal erforschen.

Karin Hadaschiks Mutter Elfriede Stahl (r.) schloss in der Wilhelmsburger Wollkämmerei Freundschaft mit Gastarbeiterinnen unter anderem Maria (M.)
Karin Hadaschiks Mutter Elfriede Stahl (r.) schloss in der Wilhelmsburger Wollkämmerei Freundschaft mit Gastarbeiterinnen unter anderem Maria (M.) © xl | Lars Hansen

„Sie müssten mit der Werksschließung über Nacht arbeitslos und obdachlos geworden sein, und das, nachdem sie selbst direkte Flutopfer waren“, sagt die Stadtteilhistorikerin Margret Markert über das Schicksal der frühen Wilhelmsburger Gastarbeiter.

Karin Hadaschik hat die Schließung nicht direkt miterlebt. Sie arbeitete nur ein Jahr lang in der Spulerei. „Fünf Tage in der Woche“, sagt sie. „Freitags mussten wir noch zur Berufsschule.“

Sonnabends ging sie von ihren 1,38-DM-Stundenlohn aus. Auch ins Kino. Bei „Die Wolgaschiffer“ im Saal des Gasthauses Sohre lernte sie ihren Mann kennen. Mit 16 heiratete sie. Damit war ihre Zeit in der „Wolle“ vorbei.

Nach der Flut wollte Hamburg den Wilhelmsburger Westen aufgeben. Deshalb blieb die Wolle geschlossen. Zuletzt war darin eine Getränkeabfüllerei.