Harburg. In Deutschland gibt es nichts Vergleichbares: Im Binnenhafen soll für 15 Millionen Euro eine Einrichtung für Betroffene unter 60 Jahren entstehen.

Das Harburger Deutsche Rote Kreuz (DRK) denkt groß und geht neue Wege. Im Binnenhafen, auf einem 4000 Quadratmeter großen Areal am Kanalplatz, plant es den „Harburger Ankerplatz“. DRK-Chef Harald Krüger schwärmt von einem bundesweiten Modellprojekt – mit Strahlkraft weit über die Bundesrepublik hinaus. Denn für 15 Millionen Euro soll hier, wenn es so läuft, wie Krüger hofft, bis zum Sommer 2021 ein dreiteiliger Gebäudekomplex für 80 Bewohner entstehen, die unter Demenz leiden. Das Besondere daran: Hier sollen Betroffene, teilweise mit ihren Angehörigen, leben und betreut werden, die die jünger sind als 60 Jahre. „Für die gibt es bisher keine Angebote“, sagt Krüger.

Gut 4000 Betroffene in Hamburg sind jünger sind als 65 Jahre

Dabei leben nach Angaben des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Vereinigung allein in Hamburg 4.060 Demenzkranke im Alter zwischen 18 bis 64 Jahren. Die Gruppe der 65- bis 79-Jährigen wird mit 7.255, die der über 80-Jährigen mit 10.968 angegeben. Dass sich das Harburger DRK besonders der jüngeren Betroffenen annimmt, hat einen konkreten Hintergrund: Harald Krüger hat im eigenen Umfeld erfahren, wie es Menschen ergeht, die ungewöhnlich jung von diesen Hirnleistungsstörungen betroffen sind. „Für sie gibt es bisher keinen angemessenen Platz“, sagt er. Das stellt vor allem Familien vor massive Probleme. Schließlich gehören 40-Jährige kaum in ein Altenheim. Sie sind dort strukturell, aber auch im Zusammenleben mit den anderen Bewohnern nur schwer zu integrieren. Das zeigt sich schon in banalen Details, auch in Tagespflege-Einrichtungen, etwa wenn es um Musik geht. Ältere schwärmen oft für die Schlager der 50er und 60er Jahre. „Aber damit können sie niemanden kommen, der mit den Stones aufgewachsen ist“, sagt Krüger.

Unter einem Dach: Wohnungen für Betroffene und Mitarbeiter

Im „Harburger Ankerplatz“ soll alles unter einem Dach gebündelt werden: Wohnen, Teilhabe, Assistenz, Betreuung, Begegnung, aber auch ambulante Pflege und Nachbarschaftshilfe. Die Bewohner sollen so unterstützt werden, dass sie ihre Eigenständigkeit so lange wie möglich bewahren können.

DRK-Chef Harald Krüger will im Binnenhafen ein für Deutschland einmaliges Projekt schaffen.
DRK-Chef Harald Krüger will im Binnenhafen ein für Deutschland einmaliges Projekt schaffen. © Hanna Kastendieck

Das Konzept, das sich das DRK ausgedacht hat, stoße auf viel Zustimmung, sagt Krüger. Vor allem hat er einen finanzkräftigen Mitstreiter an seiner Seite. Als Investor konnte er Holger Cassens gewinnen. Mit ihm sei ein Mietvertrag über 25 Jahre vereinbart: „Damit beide Seiten Planungssicherheit haben.“ Aber Krüger hat die Pläne der Architekten Hauschild und Siegel auch schon den Harburger Fraktionen vorgestellt und den Bundesabgeordneten Metin Hakverdi (SPD) und Marcus Weinberg (CDU). Die Reaktion sei durch die Bank positiv gewesen. Das ist wichtig für die weitere Entwicklung, denn einerseits hofft Krüger auf Entgegenkommen von Bezirkspolitik und -amt, weil der für den Kanalplatz geltende Bebauungsplan nur dreistöckige Gebäude vorsieht. Der „Ankerplatz“ soll aber teilweise vier Etagen hoch werden. Andrerseits setzt Krüger auf finanzielle Unterstützung aus Berlin und Brüssel: „Jeder Cent, den wir mitbringen, senkt die Miete, die wir an den Investor zahlen müssen.“

Unterschiedliche Wohn- und Betreuungsformen

Im Gebäude 1 sind 17 unterschiedlich große Wohnungen vorgesehen, in denen zum einen Demenzkranke mit und ohne Angehörige wohnen sollen. Zum anderen ist geplant, dass hier auch DRK-Mitarbeiter einziehen. Im Gebäude II soll Raum sein für eine Hausgemeinschaft mit zehn Ein-Zimmer-Wohnungen und WG-Charakter, gedacht ausschließlich für demente Menschen. Im Gebäude III sind acht Zimmer für die stationäre Unterbringung von besonders schwer Erkrankten geplant. In weiteren acht Zimmern sollen Menschen leben, die unter Frontotemporaler Demenz (FTD) leiden. Das ist eine eher seltene Form der Demenz, die durch teilweisen Nervenzelluntergang des Gehirns verursacht wird. Der Umgang mit ihnen ist häufig schwierig, denn zur Symptomatik gehören starke Veränderungen der Persönlichkeit und des Verhaltens: Sie sind teilweise aggressiv, laufen immer wieder weg. Und dann sind auch noch drei Einzimmer-Wohnungen für die Kurzzeitpflege vorgesehen, etwa für Betroffene, die nach einem Krankenhausaufenthalt nicht gleich zurück in die eigene Wohnung können – oder wenn Angehörige mal dringend eine Auszeit brauchen.

Café als Nachbarschaftstreff geplant

Die drei Häuser umrahmen einen Innenhof, der als grüner Quartiersgarten angelegt werden soll – auf der zweiten Etage. Denn der Bezirk habe vorgegeben, dass auch 180 Parkplätze vorgehalten werden müssen. Deshalb sind die Ankerplatz-Gebäude teilweise aufgebockt, so dass die Autos ebenerdig stehen; darüber kommen die Wohnungen und Zimmer. An anderer Stelle ist im Erdgeschoss allerdings auch Platz für Gewerbe. Klar ist, dass ein Café eingerichtet werden soll, als Ort der Begegnung und des Austausches. Denn auf keinen Fall möchte das DRK eine Art Ghetto schaffen. „Wir wollen uns nicht abschotten“, sagt Harald Halpick, stellvertretender DRK-Geschäftsführer und designierter Leiter des „Ankerplatzes“.

Apropos abschotten. Harald Krüger ist überzeugt, dass eine soziale Einrichtung wie der Ankerplatz sehr gut zum Binnenhafen passt: „Da soll ja nicht nur Schickimicki hin.“

Erkranktes Gehirn

Demenz umfasst Defizite in kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten. Es handelt sich um ein psychiatrisches Syndrom, das bei unterschiedlichen degenerativen und nicht degenerativen Erkrankungen des Gehirns auftritt. Vor allem sind das Kurzzeitgedächtnis, das Denkvermögen, die Sprache und die Motorik betroffen, bei einigen Formen allerdings auch die Persönlichkeitsstruktur. Maßgeblich ist der Verlust bereits erworbener Denkfähigkeit im Unterschied zur angeborenen Minderbegabung. Als häufigste Form einer Demenz gilt die Alzheimer-Demenz.

Ursachen für Demenz, die vor dem 65. Lebensjahr beginnt, können u. a. sein: Durchblutungsstörungen etwa bei einem Schlaganfall, Hirntumore oder eine sehr seltene vererbbare Form von Alzheimer.

Das Projekt „Frühe Demenz“ hat der DRK-Kreisverbandes Harburg im Jahr 2016 ins Leben gerufen. Es richtet sich an vergleichsweise junge Demenzerkrankte (bis 64 Jahre) und deren Angehörige. Ziel ist es, sie individuell zu begleiten und zu betreuen. Zu diesem Zweck wurde ein professionelles Netzwerk zum Thema Demenz in Harburg und dem Raum Süderelbe aufgebaut. Geleitet wird das Projekt von Isabelle Nakhdjavani-Brauner, Telefon: 76 60 92-585; Email: i.nakhdjavani-brauner@drk-harburg.hamburg.