Landkreis Harburg. Im Schnitt vier verhaltensauffällige Kinder pro Klasse. Sozialarbeit wird an weiterführenden Schulen immer wichtiger.

Ihr Büro hat die Zimmernummer 112 — wie die Feuerwehr. Weil sich die Schüler das leicht merken können. Und weil die Ziffernfolge zu dem passt, was Daniela Petruschke und Silke Finndorf leisten. Die beiden Frauen arbeiten als Schulsozialpädagoginnen am Albert-Einstein-Gymnasium (AEG) in Buchholz. Sie begleiten die Schüler, lösen mit ihnen Konflikte und greifen ein, wenn’s brennt — bei Gewalt, Prüfungsangst und Schulverweigerung, bei Cybermobbing und Schwierigkeiten im Elternhaus. Probleme, die auch an Gymnasien häufiger werden und für deren Lösung Experten gefordert sind.

Was an Grundschulen nahezu selbstverständlich ist, wird seit geraumer Zeit auch an Gymnasien immer wichtiger: die Schulsozialarbeit. Im vergangenen Jahr stellte das AEG gleich zwei Kräfte ein. Das Gymnasium Hittfeld beschäftigt eine Sozialpädagogin. Und das Buchholzer Gymnasium am Kattenberge will im kommenden Schuljahr die Stelle einer Schulsozialarbeiterin besetzen.

Gymnasien stehen vor neuen Herausforderungen

„Schulen sind mit immer vielfältigeren Aufgaben konfrontiert“, sagt Reiner Kaminski, Fachbereichsleiter Soziales beim Landkreis Harburg. „Gesellschaftliche Entwicklungen wie ein höherer Anteil von Migranten, Alleinerziehenden, Inklusion und Ganztagsschule machen sich bemerkbar.“ Eine Entwicklung, die Schulleiter bestätigen. „Gymnasien stehen vor facettenreichen Herausforderungen“, sagt Hans-Ludwig Hennig, Schulleiter des AEG. „Immer mehr Kinder, die von der Grundschule zu uns kommen, haben schulische Probleme.“ Nicht nur, dass das Leistungsniveau generell nach unten gehe. Auch komme es immer häufiger vor, dass Schüler, die Schwierigkeiten haben, mit Aggression reagierten und sich auffällig im Sozialverhalten zeigten.

„Es gibt eine Verrohung im Umgang miteinander“, so Hennig. Darüber hinaus wachse der Druck auf die Schüler. „Abitur wird heute von vielen Eltern als etwas Selbstverständliches angesehen. Es gibt Schüler, die diesem Leistungsdruck nicht gewachsen sind. Sie reagieren mit Schulangst, Verweigerung, Magersucht und Absentismus. In den vergangenen Jahren ist die Belastung auch für die Lehrer immer größer geworden“, sagt der Schulleiter. Also hat er gehandelt. Mit Unterstützung des Landkreises Harburg und aus Geldern durch den Verkauf von Lehrerstunden beschäftigt er jetzt zwei Schulsozialpädagoginnen mit je einer halben Stelle.

Viele Kinder sind überfordert

„Lange hieß es, an Gymnasien braucht man keine Schulsozialarbeit“, sagt Frank Patyna, Schulleiter am Gymnasium Hittfeld. „Das stimmt so nicht mehr. Das System muss sich mit veränderten Bedingungen auseinandersetzen.“ Das betrifft die demografischen Veränderungen im Elternhaus, die Veränderungen in der medialen Nutzung von Kindern und die Übergangsraten von Grundschülern in Gymnasien.

Sein Kollege Hans-Ludwig Hennig hat ausgerechnet: „Vor zehn Jahren betrug die Übergangsrate 28 Prozent und die Schüler kamen mit Empfehlung. Heute liegt sie bei 45 Prozent — ohne Empfehlung.“ Hinzu komme, dass die Kinder aufgrund der Berufstätigkeit beider Eltern sich selbst überlassen würden. „Die Kinder sitzen dann den ganzen Nachmittag vor der Daddelkiste oder dem Smartphone. Sie sind komplett überfordert.“

Vielen Schülern fehlt eine natürliche Distanz zu anderen

Am Gymnasium Hittfeld kümmert sich Sozialarbeiterin Jennifer Rieck um die Belange der 1050 Schüler. Die 32-Jährige kümmert sich vor allem um die Fünft- und Sechstklässler und hilft ihnen dabei, sich in der neuen Schule und Klassengemeinschaft zurechtzufinden. Sie fördert gemeinschaftliche Aktionen und trainiert mit den Kindern ihr Sozialverhalten, weil sie beobachtet, dass vielen Schülern eine natürliche Distanz zu anderen fehlt. „Viele wissen nicht, wo ihre Grenzen sind und wann man einem anderen zu nahe rückt“, sagt sie.

Das bestätigt auch AEG-Schulleiter Hans-Ludwig Hennig: „Die Hemmschwellen sind heute anders. Viele Schüler haben Schwierigkeiten mit Grenzen. Sie haben ein Defizit in der Wahrnehmung dessen, was sie anrichten, wenn sie etwas über andere sagen.“ Die Auffälligkeiten an Gymnasien nähmen zu. Früher habe es im Schnitt ein verhaltensauffälliges Kind pro Jahrgang gegeben, heute seien es vier pro Klasse.

Kreis stellt keine weiteren Gelder zur Verfügung

Hier greifen die Schulsozialpädagogen ein, lösen Konflikte und erklären den Schülern, welche Auswirkung ihr Verhalten hat. Anders als die Lehrer, können sich die Schulsozialarbeiter für diese Themen Zeit nehmen. Und sie haben ein anderes Verhältnis zu den Schülern. „Ich habe das Glück, nicht benoten zu müssen“, sagt Jennifer Rieck. Das schaffe einen anderen Zugang.

Immer häufiger verschieben sich auch Themen, die früher zu Hause geregelt wurden, in die Schule. Für eine 20-Stunden-Kraft sind diese Aufgaben kaum zu bewältigen. Doch die Bemühungen des Schulleiters um eine Vollzeitstelle scheiterten, da der Kreis, der aktuell die Kosten trägt, keine weiteren Gelder zur Verfügung stellen wird. Der Grund: Die Finanzierung von Schulsozialarbeitern ist Ländersache, der Kreis ist nur überbrückend eingesprungen.

Inzwischen hat jedoch auch die Landesregierung den Bedarf an Schulsozialarbeit an Gymnasien erkannt. Niedersachsen hat zugesagt, bis zum Jahr 2021 150 weitere Stellen zu schaffen. Sie sollen zu einem großen Teil Gymnasien und Grundschulen zugute kommen.