Hamburg. Mord, Totschlag, Vergewaltigung: Eine Reihe sogenannter „Cold Cases“ beschäftigt Kripo und Staatsanwaltschaft auch im neuen Jahr.
Es geht um Raub, Mord, Vergewaltigung – Fälle, die die Öffentlichkeit und die Fahnder in Atem hielten. Manche Taten – wie die „Göhrde-Morde“ – liegen Jahrzehnte zurück. Es sind so genannte Cold Cases. Andere sind noch frisch in Erinnerung. Und es gibt die kleineren Fälle, die weniger Aufsehen erregt haben. An deren Folgen die Opfer aber dennoch leiden. Eins haben all diese Fälle gemeinsam: Die Täter wurden bis heute nicht gefasst. Das Abendblatt hat zehn ungelöste Fälle aus Harburg und dem Umland zusammengetragen, die auch in diesem Jahr Polizei und Staatsanwaltschaft weiter beschäftigen werden. Einige sind vorläufig zu den Akten gelegt, doch wenn neue Hinweise auftauchen, wird weiter ermittelt.
1. Handwerker-Mord
Im Februar 2008 wird der Unternehmer Cai W. (45) auf einer Wiese in seinem Heimatdorf Holm-Seppensen erschossen. Schnell gerät ein italienischer Automechaniker (damals 37) in Verdacht, seinen „Geschäftsfreund“, den Handwerker, wegen einer offenen Rechnung getötet zu haben. Die Polizei war sich sicher, den Richtigen gefasst zu haben. Es kommt zum Prozess. Doch das Gericht spricht den Angeklagten frei. Cai W.s Mörder ist also weiter auf freiem Fuß. „Mord verjährt nicht“, heißt es im Strafgesetzbuch. „Wenn es neue Erkenntnisse oder Hinweise auf einen neuen Tatverdächtigen gibt, werden wir der Sache nachgehen“, sagt Oberstaatsanwalt Thomas Breas von der Staatsanwaltschaft Stade.
2. Bauunternehmer getötet
Im März 2010 wird der albanische Bauunternehmer Abedin K. (31) vor seiner Haustür in Meckelfeld erschossen, als mit seinem Bruder Jetmir K. (21) von einem Restaurantbesuch beim Italiener in Eppendorf zurückkehrt. Zwei schwer bewaffnete Männer hätten stundenlang auf Abedin K. gewartet, bis er gegen Mitternacht mit seinem Mercedes S-Klasse vor dem Rotklinkerhaus einbiegt, heißt es. Abedins Bruder überlebt den Kugelhagel schwer verletzt. Was war das Tatmotiv? Der aus dem Kosovo stammende Familienvater Abedin K. soll, so heißt es später, seine für ihn arbeitenden Landsleute zögerlich bezahlt haben. Kurz vor den tödlichen Schüssen soll es ein Treffen möglicherweise geprellter Arbeiter gegeben haben.
Eine weitere Spur führt ins Rotlicht-Milieu. Denn Abedin K. soll auch hier beruflich tätig gewesen sein. Schon im Jahr 2009 war auf ihn geschossen worden – im Auftrag eines Mazedoniers (29) aus Bramfeld. „Ehrverletzung“ war sein Tatmotiv. Eine „Aktenzeichen XY... ungelöst“-Sendung brachte keine nennenswerten Hinweise. Ein Anfangsverdacht gegen zwei Verdächtige wurde bereits im Dezember 2010 mangels hinreichenden Tatverdachts fallen gelassen“, sagt Wiebke Bethke, Sprecherin der Staatsanwaltschaft Lüneburg. „Bislang haben sich keine neuen Erkenntnisse auf den oder die Täter ergeben.“
3. Unfall-Fahrer von Moisburg
Ein Mercedes kam in der Nacht zum 19. September 2018 in der Ortsdurchfahrt Moisburg von der Straße ab und krachte in ein Fachwerkhaus. Sachschaden: mindestens 40.000 Euro. Die Polizei fand Blutspuren in der Limousine – aber keinen Fahrer. „Er konnte bisher nicht ermittelt werden“, sagt Polizeioberkommisssar Jan Krüger von der Polizeiinspektion Buchholz. „Der Halter des Wagens schweigt sich dazu aus.“ Die Auswertung der Spuren dauert an.
4. Göhrde-Morde
Die Morde im Staatsforst Göhrde in Niedersachsen erregten im Sommer 1989 Aufsehen: Innerhalb weniger Wochen wurden zwei Paare im Waldgebiet der Göhrde von wahrscheinlich demselben Täter ermordet. Bei ihm soll es sich um den Friedhofsgärtner Kurt-Werner Wichmann handeln, der sich 1993 das Leben nahm.
Wichmann war schon zuvor mit Gewalt- und Sexualdelikten aufgefallen. Als junger Mann war er zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt worden, weil er eine 17 Jahre alte Anhalterin vergewaltigt und fast umgebracht hatte.
Der Fall der Göhrde-Morde wurde 2018 neu aufgerollt (wir berichteten): Im April rückte eine Spezialeinheit des BKA mit Geo-Radar, Spürhunden, und Denkmalpfleger auf dem ehemaligen Grundstück des mutmaßlichen Göhrde-Mörders Wichmann an und grub den Boden bis zu drei Meter tief bis zum gewachsenen Grund um.
„200 Gegenstände, darunter Knochen und ein roter Ford Probe wurden im Haus und auf dem Grundstück sichergestellt und zum LKA geschickt“, sagte Polizeioberkommissar Mathias Fossenberger, Sprecher der Polizeidirektion Lüneburg dem Abendblatt.
In einem „Geheimzimmer“ Wichmanns entdeckten die Beamten Tisch und Stühle, ein Regal und Bücher mit Widmungen. Sie nahmen alles mit. „Auf einem Skript wurden sämtliche Gegenstände verzeichnet und allen Polizeidienststellen in Deutschland zugänglich gemacht“, sagt Fossenberger. „ Bei den Knochen handelte es sich um Tierknochen. Ob die Widmungen in den Büchern möglicherweise relevant sind, wissen wir noch nicht.“
Ominös ist ein Hartschalenkoffer, der im Oktober in einem Autohaus aufgetaucht ist und der von einem Gebrauchtwagenhändler übergeben wurde. „Im Koffer befand sich der Führerschein Wichmanns, zwei Waffen und Munition. Die Tatwaffen? Eine „Beschussprobe“ könnte Aufschluss bringen.
Der Überbringer des Koffers wurde inzwischen als Zeuge vernommen. Er habe den Koffer vom späteren Lebensgefährten der Ex-Frau Wichmanns bekommen, heißt es. Hat dieser den Koffer womöglich im Haus Wichmanns an sich genommen? „Theoretisch möglich“, sagt der Kommissar.
Die Polizei überprüft. zudem, ob Wichmann bundesweit möglicherweise für 100 weitere Mordfälle verantwortlich sein könnte. 42 Dienststellen hätten sich bereits nach den neuen Funden gemeldet. „Es ist ein herausragender Fall, mit dem wir uns 2019 weiter befassen“, sagt Fossenberger. Auch Interpol spielt eine Rolle: Eine Spur führt ins europäische Ausland.
5. Kapelle brennt in Over
Es begann im April 2003 und endete im November 2009: Dreimal hintereinander zündete ein unbekannter Brandstifter die Kapelle im Elbdorf Over an. Die Kirche brannte am Ende bis auf die Grundmauern nieder. Dachstuhl, Glockenturm und die Glocke wurden zerstört. Schadenssumme: 100.000 Euro. Es gab zwar einen Tatverdächtigen, doch der Verdacht gegen ihn ließ sich nicht erhärten. „Das Verfahren wurde wegen nicht hinreichenden Tatverdachts eingestellt“, sagt Wiebke Bethke, Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft Lüneburg.
6. Brandanschlag auf Stall
Der Fall hatte in ganz Norddeutschland Schlagzeilen gemacht: Ein Brandanschlag auf den fast fertig gebauten Hühnermaststall der Landwirtsfamilie Eickhoff am 30. Juli 2010 erschüttert die Ortschaft Sprötze. Offenbar war die Familie Eickhoff ins Visier radikaler Tierschützer geraten. Die Täter benutzten Leitern und legten an mehreren Stellen gleichzeitig Feuer. Schaden: eine halbe Million Euro. Politiker sprachen gar von einem „terroristischen Anschlag“. Die Brandruine wird zum Symbol der Eskalation des Kampfes gegen Massentierhaltung. Die Staatsanwaltschaft Stade vermutet die Täter in Kreisen militanter Tierrechtler. Trotz einer Belohnung von 25.000 Euro gibt es darauf bis heute keine konkreten Hinweise.
7. Vergewaltigung in Maschen
Eine 30-Jährige befand sich am 1. April 2017 um 3 Uhr nachts auf dem Heimweg von einer privaten Feier in Seevetal, als sich ihr ein dunkler Transporter näherte. Ein Mann stieg aus und bedrängte sie. Der Transporter, in dem zwei weiteren Männer gesessen haben sollen, fuhr im Schritttempo neben ihr her. Die Frau versuchte, Abstand zu gewinnen, lief in einen Feldweg und wurde dort – vermutlich von allen drei Männern – gepackt und vom ersten vergewaltigt. Die Männer entkamen, das Verfahren wurde vorläufig eingestellt. Die Polizei hat keinen Tatverdächtigen ermittelt. „Wenn es neue Anhaltspunkte oder Hinweise gibt, wird das Verfahren wieder eröffnet“, sagt Polizeisprecher Jan Krüger.
8. Schulmädchen belästigt
Eine 14 Jahre alte Schülerin wurde am frühen Morgen des 23. Januar 2018 auf dem Weg zur Schule offenbar von einem Unbekannten verfolgt, auf Höhe des Niels-Stensen-Gymnasiums in der Hastedtstraße in Harburg an eine Hauswand gedrängt und von ihm unsittlich berührt. Das Mädchen setzte sich heftig zur Wehr, schrie um Hilfe. Der etwa 40 bis 50 Jahre alte Täter mit „europäischem Erscheinungsbild“, wie es im Polizeibericht heißt, ließ von ihr ab und entkam. „Der Täter ist bislang nicht feststellbar“, sagt Nana Frombach, die Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft. Das Verfahren wurde am 17. April – zunächst – eingestellt.
9. Tod im Krankenhaus
Ein 57 Jahre alter Mann hatte am 21. August 2018 in der Psychiatrie des Asklepios Klinikums in Harburg randaliert und sich – mit Holzstäben bewaffnet – auf der Toilette verschanzt. Der Mann war erst kurz zuvor in die Psychiatrie eingeliefert worden. Er sollte in eine geschlossene Therapieanstalt gebracht werden. Die Polizei rückte an, setzte Pfefferspray ein und überwältigte den aggressiven Mann. Dann wurde ihm ein Beruhigungsmittel gespritzt. Zusätzlich fixierten die Polizisten den Mann.
Kurz nach diesen sogenannten Zwangsmaßnahmen verlor der Mann sein Bewusstsein. Er konnte zwar wiederbelebt werden, starb aber wenig später auf der Intensivstation. Die Mordkommission ermittelt. „Die Todesursache ist weiterhin unklar“, sagt Nana Frombach, Sprecherin der Staatsanwaltschaft. „Ein Abschluss des Verfahrens steht nicht unmittelbar bevor.“
10. Masken-Mann im „Corner“
Ein maskierter Mann betrat Sonnabendmittag, 4. August 2018 die Gaststätte „Corner“ in der Wilstorfer Straße in Harburg. Er zückte ein Messer, jagte die Gäste am Geldspielautomaten von den Stühlen – und trat solange auf einen Automaten ein, bis sich das Geldfach öffnete. Er nahm das Bargeld an sich und flüchtete über die Reinholdstraße. Sechs Wochen später wurde das Verfahren mangels aktueller Hinweise zu den Akten gelegt. Doch weiterhin hoffen die Ermittler auch hier auf Hinweise.