Harburg. Das Museum am Kiekeberg will mit der Königsberger Straße den Blick auf die Aufbau- und Wirtschaftswunderjahre freimachen.
Matsch, tiefer Matsch. Durch gelben, glitschigen Lehm führt Architektin Theda Boerma-Pahl auf das Baugrundstück. Es ist eine Hanglage am Rande des Kiekeberg-Museums, auf dem geheimnisvolle, mit Planen verhüllte Gegenstände einen Platz gefunden haben. Mehr gibt es zunächst einmal nicht zu sehen von der Königsberger Straße, die künftig eine Häuserzeile aus den Nachkriegsjahren aufnehmen und damit vergangene Zeiten aufleben lassen soll.
Boerma-Pahl, die seit gut 20 Jahren für das Freilichtmuseum arbeitet, weist auf die ersten gezogenen Fundamentmauern. Auf ihnen wird im nächsten Jahr die Grundplatte für ein typisches Siedlungsdoppelhaus aus den Jahren nach 1945 gegossen. Ein Plakat über einer roten Abdeckung fällt ins Auge. „Darunter“, sagt sie, „steht das Kassenhäuschen der Tankstelle aus Stade, die wir bereits hierher gebracht haben.“ „Ich ziehe in die Königsberger Straße“, verrät die mit einem Foto des Hauses versehenen Aufschrift.
Erster Schritt: Abbau einer Tankstelle
Rückblende: Mittwoch, 24. Oktober, 7.30 Uhr. Es ist noch dunkel in Stade, windig und kalt. Die Sonne wird erst 36 Minuten später aufgehen. Fahrradfahrer sind auf einem schmalen Bürgersteig an der Harburger Straße unterwegs, auf dem sich vor Nummer 95 eine Gruppe verabredet hat. Hände werden geschüttelt, man kennt sich.
Neben Museums-Chef Stefan Zimmermann und dem Vorsitzenden der Trägerstiftung des Museums, Klaus-Wilfried Kienert, sind auch Stades Landrat Michael Roesberg und Harburgs Landrat Rainer Rempe gekommen. Die Kreis-Verwaltungschefs wollen sich den Abbau des ersten Hauses für das Museum nicht entgehen lassen.
Die mit der Arbeit beauftragte schwäbische Spezialfirma Jako Baudenkmalpflege hat die Außenwand der Tankstelle mit einem Slogan versehen: „Ein Gebäude mit Geschichte. Wir schreiben sie weiter.“
Doch Geschichte schreibt an diesem Tag nicht nur Jako. Geschichte schreibt vor allem das Ehestorfer Freilichtmuseum mit seinem bundesweit einmaligen Projekt Königsberger Straße, das die Zeit von 1949 bis 1970 für die Besucher wieder lebendig machen soll. Nicht nur mit sechs Häusern, sondern auch mit neu eingerichteten Gärten, Straßenlaternen, Litfaßsäulen und Telefonzellen. Der Name der Straße erinnert dabei daran, dass die Ostpreußen eine der größten Gruppe der Vertriebenen im Norden bildeten. Königsberger Straßen gibt es zudem im Landkreis besonders häufig.
Auch Stiftungen beteiligen sich an Finanzierung
Sechs Millionen Euro kostet das Projekt. Der Bund gibt allein 3,84 Millionen, Niedersachsen 600.000 Euro. Weitere sechsstellige Summen kommen von Stiftungen. Unter ihnen sind auch kleinere wie die Stiftung Hof Schlüter in Lüneburg, die 160.000 Euro dazulegt. Das Siedlungsdoppelhaus, an dessen Fundament gerade gearbeitet wird, fördert die Metropolregion mit 350.000 Euro. Es wird innen künftig moderne Ausstellungsräume bieten.
Neben dem Siedlungsdoppelhaus ist auch ein Geschäftshaus als Rekonstruktion geplant. Aber auch für diese beiden Häuser stehen Vorbilder im Landkreis Harburg. Im Original abgebaut werden noch ein Quelle-Fertighaus, ein Aussiedlerhof und ein kleineres Flüchtlingssiedlungshaus.
Mit ihren aktuellen Standorten hält sich Museums-Chef Zimmermann noch zurück. „In den Häusern wohnen Menschen. Wir wollen bei ihnen keinen Tourismus auslösen.“ Nur so viel: Im kommenden Jahr wird das Quelle-Fertighaus zum Museum transportiert und danach an insgesamt vier Häusern gearbeitet.
Die Idee Nachkriegsgeschichte über Hütten und Häuser ins Museum zu bringen, stammt von Rolf Wiese, der den Kiekeberg 30 Jahre bis 2017 leitete. „Von 1995 an wurde klar, dass sich der ländliche Raum neu entwickelte und wir künftig nicht mehr allein Bauernhäuser zeigen konnten“, sagt Wiese.
1996 wurde die Nissenhütte abgebaut
Erster Schritt war 1996 der Abbau einer Nissenhütte auf dem Truppenübungsplatz in Reinsehlen bei Schneverdingen, die jedoch erst 2006 wieder aufgestellt wurde und künftig Teil des Projektes „Königsberger Straße“ sein wird. „Für mich war schon damals klar, dass aus der Hütte ein Dorf werden sollte“, sagt der heute 66-jährige Diplom-Kaufmann und Volkskundler.
Doch sein Vorschlag, den er auch mit einem Modell verdeutlichte, stieß zunächst nicht allein auf Gegenliebe. So habe Heiner Schönecke, schon damals Vorsitzender des inzwischen auf 13.600 Mitglieder angewachsenen Fördervereins, lange gezögert und in einer Vorstandssitzung erst als letzter zugestimmt, erinnert sich Wiese.
„Wir haben uns schwer getan, uns 2009 zwischen der Königsberger Straße und einem neuen Eingangsgebäude zu entscheiden. Den Ausschlag gab letztlich, dass wir mehr Sponsoren für die Straße einwerben konnten“, entgegnet Schönecke. Wiese konnte starten und schaffte es, das Projekt durchzufinanzieren. „Ein halbes Jahr bevor ich ging, war alles in trockenen Tüchern.“
Neuer Hausherr ist nun seit dem 1. November 2017 Zimmermann. „Ich habe das Projekt mit gesundem Respekt übernommen“, sagt der Historiker für Neuere und Neueste Geschichte, der zuvor vom Bauernhaus-Museum in Wolfegg (Oberschwaben) in den Norden gewechselt war. Er lässt aber keinen Zweifel daran, wie sehr ihn die Aufgabe reizt: „Die Gründungsphase der Bundesrepublik zu zeigen, halte ich für ein unglaublich spannendes Thema.“
Interesse an Zeitgeschichte nimmt zu
Stichworte sind schnelle Modernisierung, Wirtschaftswunder und die Integration von Millionen von Flüchtlingen. „Das alles hat sich nicht nur auf das Bauen und Wohnen, sondern auch auf das Leben der Menschen ausgewirkt.“ Plötzlich tauchten auf dem Land an Tragflächen erinnernde Flugdächer wie an der Tankstelle in Stade auf, flammte Neonlicht und Pendler machten sich mit Sprit für 50 Pfennige pro Liter auf dem Weg zum Arbeitsplatz. Diesen Wandel will Zimmermann abbilden. Er weiß: Typische Bauwerke werden künftig immer schwerer zu finden sein.
Es geht aber auch um Zeitzeugen. „Menschen, die die Jahre noch erlebt haben, werden durch unsere Straße gehen und ihren Kindern erzählen, wie es damals war“, ist der gebürtige Ulmer sicher. Ohnehin wird für die Bauten auch Wert auf die Ausstattung im Inneren gelegt. Auf Tafeln soll, soweit möglich, künftig die Geschichte der Bewohner erzählt werden. „Wir spüren das zunehmende Interesse an Zeitgeschichte“, sagt der 39-jährige Kiekebergchef.
Sonderausstellung als Einstieg
Als Einstieg und für Ungeduldige hat das Museum eine Sonderausstellung unter dem Titel „Zwischen Trümmern und Träumen. Weihnachten in der jungen Bundesrepublik“ gestartet (siehe Infokasten). Zimmermann ist überzeugt: Das Schwerpunktthema wird dem Museum nach den guten Ergebnissen von 2016 und 2017 mit gut 220.000 und knapp 217.000 Besuchern weiteren Zuspruch bringen. „Wir rechnen für 2018 mit einer ähnlichen Zahl wie 2017“, sagt Carina Meyer, die kaufmännische Museums-Geschäftsführerin.
Gestützt auf den Zukunftsvertrag mit dem Landkreis Harburg, der dem Museum noch bis Ende 2023 jährlich 1,9 Millionen Euro Fördermittel zusichert und Spenden aufstockt, hat sich der Kiekeberg schon jetzt zu einem der drei größten Freilichtmuseen bundesweit entwickelt. Die Förderung eingerechnet erwartet Meyer auch für 2018 einen positiven Jahresabschluss.
Zurück nach Stade. Dort sind an diesem Oktobermorgen auch die Brüder Horst und Klaus Mehrtens an die Harburger Straße gekommen. Sie haben die Tankstelle, die sie zuletzt an einen Gebrauchtwagenhändler verpachtet hatten, von ihrem Vater Karl geerbt und jetzt „ohne zu pokern freudestrahlend“ an das Museum verkauft. Wer kann schon von sich sagen, dass ein Museum seinen einstigen Besitz aufbewahrt?
Ende 2022 soll alles fertig sein
Die Brüder beobachten an diesem Vormittag über Stunden wie die Mannschaft des schwäbischen Translozierer Jako das Flugdach von Haus und Stütze trennt, die acht Tonnen schwere Konstruktion per Autokran hochhebt und sanft auf einen Tieflader setzt. Stütze und Haus folgen. Über Nacht bringt ein Spezialtransport alles nach Ehestorf. Drei weitere Häuser kommen noch: Abgebaut, aufgeladen, abgefahren und wieder neu aufgestellt. „Unser Ziel ist es, Ende 2022 mit allem fertig zu sein“, sagt Kiekeberg-Architektin Boerma-Pahl.
Noch sinken ihre Schuhe auf dem Bauplatz in den tiefen Lehmboden ein. Doch das wird bei der Eröffnung, voraussichtlich im Frühjahr 2023, längst Vergangenheit sein. „Die Besucher sollen in der Königsberger Straße die Illusion haben, in die Nachkriegsgeschichte einzutauchen“, sagt Initiator Rolf Wiese. Es wird für sie ein Erlebnis, das bundesweit einmalig ist.