In der Zentralen Notaufnahme der Helios Mariahilf Klinik Hamburg werden täglich rund 90 Patienten behandelt - darunter viele Kinder.

Rüdiger Zahmel steigt in sein Auto. Es ist 21.30 Uhr. Vor wenigen Minuten haben er und seine Kollegin zwei Menschenleben gerettet: eine Schwangere und ihr Baby nach einem schweren Verkehrsunfall. Zahmel, Funktionsleiter der Zentralen Notfallambulanz, lässt sich in den Fahrersitz fallen. Startet den Motor. Und lächelt.

Es ist Donnerstag, ein ganz normaler Tag in einer ganz normalen Woche im März 2018. Alltag in der zentralen Notaufnahme (ZNA) der Helios Mariahilf Klinik Hamburg. Etwa 90 Patienten werden an diesem Tag die ZNA besuchen. Sie werden zu Fuß kommen, mit dem Auto, dem Rettungswagen. Kinder, Schwangere, Frauen mit gynäkologischen Beschwerden. Sie werden kommen, weil sie krank sind, verletzt, verunglückt. Was der Tag bringt, weiß Rüdiger Zahmel erst, wenn die Schicht zu Ende ist. Sie beginnt um 13.18 Uhr.

Die Zahl der Patienten in der Ambulanz steigt stetig

Manchmal kommen auch Männer mit Beschwerden. Oder ältere Patienten. Menschen, die gesundheitlich angeschlagen sind, die einen Arzt brauchen. Und zwar dringend. Doch hauptsächlich konzentriert sich die Klinik an der Stader Straße auf Fälle im gynäkologischen, geburtshilflichen sowie pädiatrischen Bereich. So hat es die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz im vergangenen Sommer mit der Umstrukturierung der Notfallversorgung im Süderelberaum beschlossen. Seitdem steigt die Anzahl der Patienten in der Notfallambulanz kontinuierlich.

Die Rettungswagen halten direkt am Eingang der ZNA in unmittelbarer Nähe der Schockräume.
Die Rettungswagen halten direkt am Eingang der ZNA in unmittelbarer Nähe der Schockräume. © HA | Hanna Kastendieck

Es ist früher Nachmittag. Das Wartezimmer ist leer. „Die Ruhe vor dem Sturm“, vermutet Jenny Eichbaum. Sie ist 26 Jahre alt, Medizinische Fachangestellte und „Mädchen für alles“. Sie nimmt die Patienten am Empfang entgegen, misst Fieber und Puls. Sie beruhigt, tröstet, erklärt. Sie muntert auf und puffert ab, wenn Eltern schimpfen, weil sie mit ihren kranken Kindern warten müssen. Manchmal länger als zwei Stunden. „Viele verstehen nicht, warum sie in einer Notaufnahme nicht umgehend behandelt werden“, sagt sie. Schließlich sehen sie sich als Notfall.“

Es gibt Tage, da stehen die Wartenden bis auf den Flur, toben Kinder durch die Gänge, sind zwei Schockräume und fünf Behandlungszimmer zeitgleich besetzt. Und es gibt Tage, da kommen pro Stunde nicht mehr als drei, vier Patienten. „Kein Tag ist wie der andere“, sagt Rüdiger Zahmel. „Wir müssen immer vorbereitet sein — auf alles.“

Während Zahmel einen Rettungswagen in Empfang nimmt, der eine alte Dame mit Fieber und Übelkeit bringt, kümmert sich Kinderkrankenschwester Christin Wiesing gemeinsam mit Kinderärztin Dr. Lisa Weinhold um die kleinen Patienten in den Behandlungszimmern. Ein Dreijähriger kommt mit seinem großen Bruder. Der Kleine hustet ununterbrochen, bekommt kaum Luft. Die Ärztin bereitet das Inhaliergerät vor, tippt ein paar Daten in den Computer. „Wir müssen ihn stationär aufnehmen“, sagt sie. Streicht dem Jungen über den Kopf. Verlässt den Raum. Nebenan wartet ein Mädchen mit starken Bauchschmerzen. Auch sie wird über Nacht bleiben. Die Zweijährige mit dem grippalen Infekt darf wieder nach Hause. Ebenso das zehn Monate alte Baby mit Erkältung. Am Empfangstresen klagt eine Dame über Schmerzen in der Brust. Das Telefon klingelt. Ein weiterer Rettungswagen kündigt sich an: „Kind mit Fieberkrampf“, sagt Rüdiger Zahmel und begibt sich in den Schockraum.

Bei der Übergabe im Aufenthaltsraum besprechen die Kollegen die aktuelle Patientensituation in der ZNA
Bei der Übergabe im Aufenthaltsraum besprechen die Kollegen die aktuelle Patientensituation in der ZNA © HA | Hanna Kastendieck

Die Bandbreite der Behandlungen ist groß. In die ZNA kommen Kinder und Jugendliche mit Husten, Schnupfen, Heiserkeit genauso wie mit Gehirnerschütterungen, Schnittwunden, Brandverletzungen und Knochenbrüchen. Es kommen Schwangere, die akute Probleme haben und Patienten, die einen schnellen, ärztlichen Rat brauchen. Es kommen Menschen mit einfachen Beschwerden und Schwerverletzte. Manche kämpfen hier ums Überleben. Nicht immer gewinnen sie diesen Kampf.

Auch Rüdiger Zahmel hat Menschen sterben sehen. Der 51-Jährige arbeitet seit 27 Jahren im Mariahilf. Er hat Leben gerettet und verloren. Unzählige Verletzungen und Krankheiten kennengelernt und versorgt. Er weiß, wie das Leben spielen kann. Die Arbeit hat ihn Demut gelehrt. Und Dankbarkeit für die eigene Existenz. Die Mitarbeiter spüren das. Und auch die Patienten, die kommen.

Zahmel behandelt sie alle gleich. Mit der gleichen Heiterkeit und Geduld, die er sich wünschen würde, sollte er eines Tages einmal in einer ZNA landen. „Ich versuche, jeden Patienten mit der gleichen Fürsorge zu behandeln. Denn jeder, der zu uns kommt, braucht Hilfe.“ So wie Pascal, zwölf Jahre alt. Er ist in der Schule gegen eine Tür gerannt. Jetzt prüft die Ärztin, wie stark die Verletzung ist. „Wenn du Übelkeit hast, Schwindel, Unwohlsein, musst du wiederkommen“, sagt sie. Dann darf der Junge gehen. Zeitgleich trifft der Rettungswagen ein. Rüdiger Zahmel informiert den Kinderarzt.

Rüdiger Zahmel, Bereichsleiter zentrale Notfallambulanz, versorgt eine Patientin im Schockraum.
Rüdiger Zahmel, Bereichsleiter zentrale Notfallambulanz, versorgt eine Patientin im Schockraum. © HA | Hanna Kastendieck

In den vorderen Behandlungszimmern kümmert sich Assistenzärztin Lisa Weinhold um die Patienten, die auf eigene Faust in die ZNA kommen. So wie der Dreijährige mit seinem großen Bruder. „Wo ist eure Mutter?“, fragt die Ärztin. „Die kann gerade nicht“, sagt der Junge. Lisa Weinhold untersucht das Kind. Sie weiß, dass es ihre Aufgabe ist, zu helfen. Nicht aber, die familiäre Situation zu kommentieren. „Natürlich berühren mich Patientenschicksale auch persönlich“, sagt sie, „aber es ist wichtig, einen gewissen Abstand zum Patienten zu wahren.“

Unterdessen füllt sich das Wartezimmer. Jennifer Eichbaum tippt im Minutentakt die Daten der Neuankömmlinge in den Rechner. Sie misst Fieber, Sauerstoffsättigung, Puls, trägt die Ergebnisse in das Programm ein. „Mit diesen Daten triagieren wir Mitarbeiter der ZNA unsere Patienten. Das System hilft uns dann, zu errechnen, wie dringend eine Behandlung ist und wie lange ein Patient mit seinen Beschwerden warten darf“, sagt sie. Manchester-Triage-System heißt das standardisierte und zertifizierte Verfahren. Wenn alle Daten eingegeben sind, errechnet das System die zumutbare Wartedauer. Zeigt die Skala blau an, sind bis zu 120 Minuten Wartezeit möglich. Zeigt sie rot, muss sofort behandelt werden.

„Wir überlassen nichts dem Zufall“, sagt Rüdiger Zahmel. „Alles läuft bei uns nach einem festen, klar nachvollziehbaren System.“ Natürlich werde ein kurzatmiger Junge einem Kind mit Schnupfen vorgezogen, so Zahmel. Auch wenn das häufig den bösen Blick anderer Eltern zur Folge habe. „Die wissen eben nicht, dass nebenan vielleicht ein Kind um sein Leben kämpft.“

Es ist 18 Uhr. Die Arztpraxen haben geschlossen. Wer jetzt noch einen medizinischen Rat braucht, landet oft hier. Darunter ein 18-Jähriger mit erhöhter Temperatur und Kopfschmerzen und eine Vierjährige mit Schnupfen. Die Ärzte diagnostizieren einen grippalen Infekt. „Natürlich fragen wir uns manchmal, warum die Patienten nicht erstmal zu ihrem Hausarzt gehen“, sagt Jenny Eichbaum. „Dann hätten wir mehr Kapazitäten für die wirklichen Notfälle.“

Rund 60 Patienten werden in sechs Stunden aufgenommen

Die Schicht neigt sich dem Ende, doch noch immer sind die Behandlungszimmer belegt. Jenny Eichbaum hat in den vergangenen sechs Stunden 60 Patienten angenommen. Plötzlich klingelt das Notfalltelefon. Die Feuerwehr meldet einen Verkehrsunfall. Der Rettungswagen ist bereits auf dem Weg in die Klinik. Er bringt eine schwangere Frau. Ein oder mehrere Organe sind schwer verletzt. Auch das ungeborene Baby könnte verletzt sein.

Innerhalb weniger Minuten versammelt sich ein Team aus gynäkologischen, geburtshilflichen, anästhesiologischen sowie chirurgischen Ärzten und Pflegern im Schockraum. Rüdiger Zahmel blickt in die Runde. Die Mannschaft ist bereit.

Damit Ausnahmesituationen wie diese nicht Hektik und Chaos auslösen, wird nach einem festgelegten und genau geprobten Schema gearbeitet. „Jeder steht in einem solchen Fall an seinem Platz und bereitet sich auf seine zugewiesene Aufgabe vor“, sagt Rüdiger Zahmel. „Manchmal zählt jede Minute.“

Dann schwingt die automatische Tür am Eingang der Notaufnahme auf. Der Notarzt und ein Rettungsassistent rollen eine Trage herein. Darauf liegt die schwerverletzte, schwangere Frau. Die Feuerwehr hatte sie zuvor aus dem Auto herausgeschnitten. Das Team im Schockraum übernimmt. Die Ultraschalluntersuchung ergibt, dass das ungeborene Kind unverletzt ist.

Als Rüdiger Zahmel um 21.30 Uhr die Klinik verlässt und in sein Auto steigt, weiß er einmal mehr, warum er diesen Beruf gewählt hat. Er denkt an die werdende Mutter, ihre schweren Verletzungen, ihre Verzweiflung. Und an ihren glücklichen Gesichtsausdruck, als sie erfährt, dass es ihrem Baby gut geht. Er startet den Motor. Und lächelt.